Zum ersten Mal verliebt
glänzender Erfolg werden! Die ersten drei Nummern waren gut über die Bühne gegangen. Rilla hielt sich in dem kleinen Ankleideraum hinter der Bühne auf, schaute auf den mondbeschienenen Hafen hinaus und probte noch einmal ihren eigenen Vortrag. Sie war allein. Die anderen Teilnehmerinnen befanden sich in dem größeren Raum auf der anderen Seite. Plötzlich spürte sie, wie sich zwei weiche nackte Anne um ihre Taille legten. Dann gab Irene Howard ihr einen kleinen Kuss auf die Wange.
»Rilla, süß siehst du aus, richtig engelhaft! Du bist wirklich tapfer. Und ich dachte, du würdest so darunter leiden, dass Walter sich als Soldat gemeldet hat, dass du das hier nicht schaffst. Dabei scheint dich das völlig kalt zu lassen. Deine Nerven möchte ich haben!«
Rilla stand da und rührte sich nicht. Nichts bewegte sie, sie fühlte nichts. Ihre Gefühle schienen wie weggeblasen. »Walter - Soldat«, hörte sie sich sagen. Dann hörte sie, wie Irene affektiert auflachte.
»Sag bloß, das hast du nicht gewusst? Ich habe natürlich gedacht, du wüsstest das, sonst hätte ich den Mund gehalten. Ich trete aber auch immer ins Fettnäpfchen, wie? Ja, das war der Grund, warum er heute in die Stadt gefahren ist. Er hat es mir erzählt, als er heute Abend mit dem Zug zurückkam. Ich war die Erste, der er es gesagt hat. Er hatte noch keine Uniform an, die sind im Augenblick ausgegangen, aber in ein bis zwei Tagen bekommt er eine. Flab ich nicht immer gesagt, dass Walter genauso viel Mut hat wie jeder andere? Ich kann dirversichern, Rilla, ich war richtig stolz auf ihn, als er es mir sagte. Oh, ich höre gerade, dass Rick MacAlIister fertig ist mit ihrer Lesung. Ich muss mich beeilen. Ich habe versprochen für den nächsten Chor zu spielen. Alice Clow kann nicht, sie hat solche Kopfschmerzen.«
Weg war sie, Gott sei Dank! Rilla war wieder allein. Sie starrte hinaus auf den Flafen, der immer noch genauso traumhaft schön aussah wie vorhin. Jetzt erst kehrten ihre Gefühle zurück. Sie spürte plötzlich einen stechenden Schmerz, der so stark war, dass er ihr fast das Flerz zerriss.
»Ich kann es nicht ertragen«, flüsterte sie. Und dann kam ihr der schreckliche Gedanke, dass sie es vielleicht doch ertragen könnte und dass sie womöglich jahrelang darunter leiden müsste.
Sie musste fort von hier, nach Hause. Sie musste allein sein. Sie konnte jetzt unmöglich da hinausgehen und vorlesen oder an Dialogen teilnehmen. Damit würde sie das halbe Konzert verderben. Aber was machte das schon, es war schon alles egal. War sie das, Rilla Blythe, dieses gequälte Wesen, das noch vor wenigen Minuten so glücklich gewesen war? Draußen sang ein Quartett »Nie werden wir die alte Fahne fallen lassen«. Wie weit weg diese Musik klang! Warum konnte sie nicht weinen, so wie damals bei Jem, als er ihnen gesagt hatte, dass er ging? Wenn sie weinen könnte, würde dieses schreckliche Etwas, das von ihrem Leben Besitz ergriffen hatte, von ihr ablassen! Aber es kamen keine Tränen. Wo waren bloß ihr Schal und ihr Mantel? Sie musste weg von hier und sich verstecken wie ein Tier, das tödlich verletzt worden ist. Aber war es nicht feige, einfach so davonzulaufen? Diese Frage tauchte plötzlich vor ihr auf, als ob jemand anders sie gestellt hätte. Sie dachte an die Schlachtfelder in Flandern. Sie dachte an ihren Bruder und an ihren alten Spielkameraden, die mithalfen im Feuerhagel die Schützengräben zu verteidigen. W'as würden sie von ihr denken, wenn sie sich hier vor dieser winzigen Aufgabe drückte, dieser unbedeutenden Aufgabe, das Programm für ihr Rotes Kreuz durchzuführen? Aber sie konnte nicht bleiben, sie konnte einfach nicht. Und doch: Was hatte Mutter damals gesagt, als jem ging: »Wenn unsere Frauen den Mut verlieren, wie sollen die Männer noch furchtlos sein?« Aber das, das war einfach unerträglich!
Auf dem Weg zur Tür hielt sie inne und ging zum Fenster zurück. Irene sang jetzt. Ihre schöne Stimme - das einzig Erfreuliche an ihr - schallte klar und süß durchs Haus. Rilla wusste, dass das Fahnenschwingen der Feen als Nächstes drankam. Konnte sie hinausgehen und die Mädchen begleiten? Sie hatte Kopfschmerzen und ihre Kehle brannte. Warum bloß hatte Irene ihr das jetzt gesagt, ausgerechnet jetzt? Das war richtig grausam von Irene! Jetzt fiel Rilla auch ein, dass ihre Mutter sie an diesem Tag mehr als einmal mit so einem merkwürdigen Gesichtsausdruck angesehen hatte. Aber sie war zu beschäftigt gewesen, um sich
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