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Zum ersten Mal verliebt

Titel: Zum ersten Mal verliebt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucy Maud Montgomery
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darüber Gedanken zu machen. Jetzt verstand sie. Mutter hatte gewusst, warum Walter in die Stadt gefahren war, aber sie wollte es ihr nicht sagen, bevor das Konzert vorüber war. Wie stark ihre Mutter war und wie ausdauernd!
    »Ich muss hier bleiben und durchhalten«, murmelte Rilla und faltete entschlossen ihre kalten Hände.
    Der Rest des Abends kam ihr später vor wie ein Fiebertraum. So viele Menschen waren um sie herum, und doch hatte sie das Gefühl, ganz allein in einer Folterkammer zu sein. Sie spielte beherrscht die Begleitung beim Fahnenschwingen und trug ihre Lesungen ohne jede Unsicherheit vor. Sie schlüpfte sogar in das groteske Gewand einer alten irischen Frau und spielte den Teil in einem Dialog, den Miranda Pryor abgelehnt hatte. Aber ihre irische Aussprache war nicht so quirlig wie in den Proben und ihre Lesungen ließen ihren üblichen Schwung und ihren Charme vermissen. Während sie vor dem Publikum stand, sah sie nur ein einziges Gesicht, nämlich das Gesicht dieses hübschen dunkelhaarigenjungen, der neben ihrer Mutter saß. Und sie sah dasselbe Gesicht in den Schützengräben. Sie sah dieses Gesicht kalt und tot unter den Sternen, sie sah es als das verzweifelte Gesicht eines Gefangenen. Sie sah es mit ausgestochenen Augen - sie sah so viele schreckliche Dinge, während sie da auf der fahnengeschmückten Bühne der Konzerthalle stand, das Gesicht fahler als die Apfelblüten in ihrem Haar, in den Pausen marschierte sie ruhelos in dem kleinen Ankleideraum auf und ab. Nahm denn das Konzert überhaupt kein Ende mehr!
    Schließlich war es zu Ende. Olive Kirk kam herbeigelaufen und erzählte ihr begeistert, dass sie hundert Dollar eingenommen hatten. »Das ist gut«, sagte Rilla ohne Anteilnahme. Endlich hatte sie es hinter sich. Gott sei Dank, endlich! Walter wartete an der Tür auf sie. Er legte schweigend seinen Arm um ihre Schulter und sie gingen zusammen im Mondschein die Straße hinunter. Die Frösche quakten im Moor, und sie waren umgeben von den heimatlichen Feldern, die wie versilbert schienen. Wie lieblich und anheimelnd die Frühlingsnacht war! Diese Schönheit war wie eine Beleidigung für Rillas Schmerz. Sie würde den Mondschein für immer hassen!
    »Du weißt es?«, fragte Walter.
    »Ja. Irene hat es mir gesagt«, sagte Rilla mit erstickter Stimme.
    »Wir wollten es dir nicht vor dem Ende des Abends sagen. Aber als du auf die Bühne kamst, habe ich gleich gewusst, dass es dir jemand gesagt hat. Ich musste es tun, meine kleine Schwester. Ich hätte diesen Zustand einfach nicht mehr länger ausgehalten, besonders nicht, seitdem die Lusitania versenkt wurde. Als ich mir vorstellte, wie die toten Frauen und Kinder in diesem unbarmherzigen, eiskalten Wasser umhertreiben, da habe ich zuerst so etwas wie Ekel vor dem Leben empfunden. Ich wollte weg aus dieser Welt, in der so etwas passieren kann, ihren verdammten Staub für immer von meinen Füßen schütteln. Da wusste ich plötzlich, dass ich gehen muss.«
    »Aber es sind doch schon - genug - ohne dich.«
    »Das ist nicht der Punkt, Rilia-meine-Rilla. Ich gehe um meinetwillen, um meine Seele am Leben zu erhalten. Sie wird zu einem kleinen, armseligen leblosen Etwas zusammenschrumpfen, wenn ich nicht gehe. Und das wäre schlimmer als Blindheit oder Verstümmelung oder all das, wovor ich mich gefürchtet habe.«
    »Aber du - du wirst vielleicht getötet werden.« Rilla musste sich überwinden das zu sagen. Sie wusste, dass es sich schwach und feige anhörte, aber die Spannung an diesem Abend war fast zu viel für sie gewesen.
    »Es ist nicht der Tod, den ich fürchte, das habe ich dir schon vor langer Zeit gesagt. Man kann für das Leben einen zu hohen Preis bezahlen, meine kleine Schwester. Es gibt in diesem Krieg zu viel Abscheuliches. Ich muss hingehen und dabei helfen, es aus der Welt zu schaffen. Ich werde für die Schönheit des Lebens kämpfen, Rilla-meine-Rilla. Das ist meine Pflicht. Vielleicht gibt es eine höhere Pflicht, aber das ist Ansichtssache. Jedenfalls ist es das, was ich dem Leben und Kanada schulde, und ich muss dafür bezahlen. Rilla, heute habe ich zum ersten Mal, seit Jem gegangen ist, meine Selbstachtung wieder gefunden. Ich könnte jetzt ein Gedicht schreiben!« Walter lachte. »Seit August war ich nicht fähig auch nur eine einzige Zeile zu schreiben. Und heute Abend könnte ich hunderte schreiben! Sei tapfer, meine kleine Schwester! Du warst doch auch so mutig, alsjem gegangen ist.«
    »Das - das ist nicht

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