Zum Frühstück kühle Zärtlichkeit
Privatpartys veranstaltet. Ein exzentrisch großer Wohnraum, indirektes rötliches Licht, schwere Plüschvorhänge vor den Fenstern, dicke Teppiche, zebragestreifte Sessel, Kissen, ein Löwenfell, eine kleine, palisandergetäfelte Bartheke mit einem ausreichenden Flaschenvorrat.
Dr. Normann registrierte es nur am Rande. Der Zustand Helga Anderssens erlaubte jetzt weder Fragen noch Vermutungen. Man hatte sie auf die Couch gebettet und mit einer Decke zugedeckt. Sie versuchte, eine Bewegung zu machen, es gelang nicht. Ihr Gesicht war sehr blaß. »So schlimm war es noch nie«, sagte sie leise, »ich kann keinen Arm bewegen, nicht mal die Hände.«
Normann kannte alle ihre neurologischen Befunde, trotzdem plagten ihn plötzlich Zweifel. Eine so totale Lähmung aller Körperpartien – ließ sich das noch wegzaubern? Gab es nicht doch eine versteckte organische Ursache, im Gehirn oder im Rückenmark? Nicht erkannte multiple Sklerose oder sonst was?
Er zog ihr die Decke weg. Einen Moment starrte er sie ungläubig an. Notdürftig hatte man ihr einen Mantel umgehängt, unter dem Mantel war sie nackt.
Er sah, daß sie zum Sprechen ansetzen wollte. »Erklären Sie mir jetzt gar nichts, Fräulein Anderssen. Wir wollen erst mal sehen, daß wir Sie wieder auf die Beine bringen.«
Sie war zum Glück gut zu hypnotisieren. Nach wenigen Minuten sank ihr Kopf zurück, der hypnotische Schlaf war eingetreten, die Wirklichkeit ihr entrückt.
Unterhalb der Schwelle des Bewußtseins mußte er sie jetzt erreichen, mußte er ihren Körper zwingen, seinen Widerstand aufzugeben. Er hatte nichts als seine Stimme zur Verfügung.
»Helga, spreizen Sie die Finger, zuerst die linke Hand, dann die rechte … So ist es gut! Heben Sie jetzt den rechten Arm, höher, noch höher.«
Allmählich geriet er in Schweiß. Es schien ihm, als mache dieser Körper plötzlich Kräfte gegen ihn mobil, als müsse er, Normann, auf halbem Weg aufgeben und Helga zurücksinken lassen in die Schlaffheit der Lähmung, in das Elend.
»Helga, Sie spüren doch, wie leicht Ihre Beine geworden sind. Warum stehen Sie nicht auf?«
»Ich kann nicht«, flüsterte sie.
»Natürlich können Sie. Nicht anstrengen! Lassen Sie das, es geht ja ganz leicht.«
Normann trat nach vorn, direkt vor sie hin. Zwei Schritte trennten ihn von ihr, und er streckte ihr die Arme entgegen. Seine Stimme lockte sie: »Kommen Sie jetzt, Helga! Kommen Sie zu mir!«
Er beobachtete sie gespannt. So etwas wie ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, eine Verklärung fast. Und langsam, so als müßte sie erst gehen lernen, erhob sie sich. Der Mantel fiel ihr von der Schulter.
Sie war ein Medium, sie schämte sich jetzt nicht ihrer Nacktheit. Es hatte etwas Rührendes an sich, wie sie auf ihn zukam, Schritt für Schritt. Als habe sie den Wunsch, daß er sie streichle.
Normann wich zurück. Er war schon bis zur Grenze des Möglichen gegangen. »Bleiben Sie stehen, Helga. Sehen Sie, da drüben auf dem Stuhl liegen Ihre Kleider, ziehen Sie sich jetzt an.«
Er wußte, daß sie gehorchen würde. Er konnte sich umdrehen, warten, bis sie sich angezogen hatte.
Psychiater müssen an Überraschungen gewöhnt sein. Aber diesmal gab es doch eine ganze Menge Überraschungen. Kaum hatte er die hypnotische Sitzung beendet, da hörte er plötzlich Stimmen im Flur, die Tür wurde aufgerissen, der Barbesitzer trat ein in Begleitung zweier uniformierter Polizeibeamter.
Adamek schien nicht wenig erleichtert zu sein, als er Helga Anderssen in einem züchtigen, hochgeschlossenen Kleid auf seiner Couch sitzen sah. Er verbarg den Triumph in seiner Stimme nicht. »Sie sehen, Herr Wachtmeister, hier ist alles in Ordnung.«
»Bei Ihnen ist nie alles in Ordnung«, knurrte der Wachtmeister und wandte sich dann an das Mädchen: »Sind Sie die Stripteasetänzerin?«
Ein paar Sekunden lang war es peinlich still im Raum. Normann vermied es, Helga Anderssen in diesem Moment anzusehen. Aber er hörte schließlich ganz deutlich ihr »Ja«.
»Wir sind verständigt worden«, erklärte der Wachtmeister. »Sie sollen auf der Bühne zusammengebrochen sein.«
»Ja.«
»Warum wurde kein Krankenwagen geholt?«
Normann schaltete sich ein. »Ich bin Arzt. Fräulein Anderssen ist meine Patientin.«
Es war, zugegeben, alles ein bißchen merkwürdig. Und der Wachtmeister blieb mißtrauisch. »Bitte Ihre Papiere, Fräulein Anderssen.«
Sie schob ihm einen Ausweis hin.
Der Polizist sah sie überrascht an.
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