Zum Frühstück kühle Zärtlichkeit
»Chefsekretärin?«
»Ja.«
»Und Striptease ist Ihr Hobby, oder wie?«
»Meine Privatsache jedenfalls«, antwortete sie kühl.
»Na schön.«
Ein paar Minuten später war der Spuk vorbei. Normann und Helga blieben allein in der Wohnung zurück. Adamek hatte beim Hinausgehen noch auf seine Hausbar gedeutet: »Bitte, bedienen Sie sich, Herr Doktor.«
Normann war kein großer Barmixer, aber aus Gin und Zitronensaft brachte er ein ganz ordentliches Getränk zustande. »Ich denke, Sie können jetzt einen Schluck vertragen.«
Helga Anderssen nahm einen großen Schluck, dann sagte sie: »Ich weiß, ich bin Ihnen eine Erklärung schuldig.«
»Nein, Fräulein Anderssen, Sie sind mir keine Erklärung schuldig. Nur: Es gibt im Leben einen Punkt, wo man allein nicht mehr weiter weiß, wo man leicht vor die Hunde gehen kann, wenn man nicht Hilfe in Anspruch nimmt.«
»Warum verachten Sie mich eigentlich nicht?«
»Weil ich Ihnen helfen will.«
Sie lachte bitter. »Das wäre wohl die erste Stripteasetänzerin in Ihrem Patientenkreis?«
Er antwortete ernst: »Ich halte Sie nicht für eine Stripteasetänzerin.«
»Sondern?«
»Für eine nette junge Frau, die aus dem Gleichgewicht geraten ist. Eine Lebenskrise, eine Fehlhaltung, wenn Sie es medizinisch haben wollen.«
Sie drehte ihr Glas in der Hand. »Ich glaube, Herr Doktor, an mir ist alles falsch.«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, nicht alles, nur etwas ist falsch.«
Helga Anderssen stand auf, machte ein paar Schritte quer durchs Zimmer, blieb plötzlich stehen. Mutlos blickte sie ihn an. »Herr Doktor, ich bin jetzt dreiunddreißig, und dieses Etablissement spricht gegen mich, aber …« Sie errötete, schluckte an ihren eigenen Worten. »Ich habe noch nie mit einem Mann etwas gehabt. Ich bin in Wirklichkeit eine alte Jungfer.«
Er war sicher, daß sie die Wahrheit sagte. Und er hätte ihr als Psychologe gut erklären können, warum sie auf diesen seltsamen Ausweg verfallen war. Die Jungfrau stieg auf die Bühne, um zu sagen: »Seht her, wie schön ich bin!« Was nie ein Mann zu ihr gesagt hatte, das suchte sie nun, anonym, unter falschem Namen.
Wie viele Enttäuschungen, wie viele einsame Nächte mochten diesem Schritt vorausgegangen sein?
»Helga«, sagte er, »setzen Sie sich wieder in Ihren Sessel. Wir wollen jetzt mal ganz vernünftig miteinander reden.« Er wartete, bis sie Platz genommen hatte. »Sie möchten doch nicht im Rollstuhl enden, nicht wahr?«
Sie blickte ihn mißtrauisch an.
»Mein Leben, das ich so führe, und diese entsetzlichen Anfälle – sind das nicht zwei völlig verschiedene Dinge?«
»Nein, eben nicht«, entgegnete er. »Die Seele kann im Körper ziemliches Unheil anstiften, das ist es, was wir kapieren müssen. Sehen Sie, ich habe zum Beispiel eine junge Frau behandelt, die hat fast jede Nacht im Schlafzimmer schwerste Asthmaanfälle bekommen. Alle Medikamente versagten.« Er trank sein Glas leer. »Es gab sozusagen eine Patentlösung. Die vierjährige Tochter schlief bei den Eltern, das störte die Frau. Sie hatte Skrupel beim Geschlechtsverkehr, Angst. Als das Kinderbett auf meinen Rat hin aus dem Schlafzimmer verbannt wurde, hörten die Asthmaanfälle schlagartig auf.«
Helga zuckte die Schultern. »Ich weiß nicht, bei mir wird es keine solche Patentlösung geben.«
»Na, Helga, kein Vertrauen mehr zu mir?«
»Doch.« Sie lächelte schwach. »Sie sind der erste Mensch, der sich mit meinen Problemen beschäftigt. Ich fürchte nur, ich bin Ihnen zu spät begegnet.«
Normann stand auf. »Es ist nie zu spät, Helga. Jeder Mensch kann sich ändern, wenn er sich nur selbst richtig kennengelernt hat.« Er legte ihr den Mantel um die Schultern. Und er wußte nun, daß die Gruppe vollständig war. Vier Namen, vier Frauen, vier Schicksale, viermal eine Sackgasse, aus der sie herauskommen wollten.
Helga Anderssen würde die einzige Unverheiratete sein. Die andern drei trugen Eheringe: Stephi Helmer, die einen Selbstmordversuch hinter sich hatte, Ellen Diekenhorst, die Frau des Konsuls, die Reiche, die Verwöhnte, und Laura Riffart.
Normann und Helga verließen die Wohnung des Barbesitzers, traten in die Nacht hinaus. Der Arzt brachte Helga heim, fand noch ein paar Worte der Zuversicht. Und danach trank er noch ein Bier, in irgendeiner Kneipe, zusammen mit ein paar fremden Nachtwandlern, bevor er nach Hause ging und dabei an Laura dachte.
Im Osten über der Stadt zeigte sich schon ein heller Silberstreif, der den Morgen
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