Zum Glück Pauline - Roman
Mittwochabend. Das dauerte aber lange am anderen Ende der Leitung. Meine Einladung brachte sie anscheinend vollkommen aus dem Konzept.
Meine Mutter hatte mir früher immer Vorwürfe gemacht, ich sei gefühlskalt und würde nichts von mir erzählen. Was ihr gar nicht auffiel: Jedes Mal, wenn ich versuchte, auf sie zuzugehen, wirkte sie alles andere als erfreut, wallte nicht gerade Zärtlichkeit in ihr auf. Sie kritisierte mechanisch an mir herum, als ginge es darum, sich von der Last der eigenen Schuld zu befreien. Und jetzt, da ich die beiden zum Essen einlud, was an sich ein freudiges Ereignis hätte sein können, oder nennen wir es eine nette Überraschung, spürte ich, was in den Jahren des gegenseitigen Unverständnisses zu Bruch gegangen war. Ich bereute schon fast wieder, dass ich angerufen hatte, und vergaß meine Todesangst, die den Anruf ausgelöst hatte. Irgendetwas hatte ich mir von diesem Essen wohl versprochen, ohne dass ich hätte sagen können, was. Ungeliebte Kinder hören nie auf, der Zuneigung hinterherzurennen, die sie nicht bekommen – das ist eben so. Ich konnte noch so oft an der Gefühllosigkeit meiner Eltern abprallen, ich kam immer wieder angewackelt mit neuenHoffnungen, wie sie an sich nur Leute haben können, die an Alzheimer leiden.
«Mit Vergnügen», verkündete meine Mutter nach zwei- oder dreiminütigen Beratungen mit meinem Vater, die das Vergnügen nicht besonders glaubwürdig erscheinen ließen.
«Ah, wunderbar. Wir erwarten euch dann also um 20 Uhr.»
«Sollen wir was mitbringen?»
«Nein, nicht nötig. Ich komme heute früher von der Arbeit und hab genug Zeit, alles vorzubereiten.»
«Ach so, du gehst früher? Hast du Probleme in der Arbeit?»
«Mama …»
«Ich frag ja bloß. Weil das komisch ist. Das hab ich ja noch nie gehört, dass du früher gehst …»
«Nein, ich war nur sehr fleißig in letzter Zeit und habe mir einen kleinen Vorsprung herausgearbeitet …»
«Ah ja … das kann ich mir vorstellen», meinte sie mit einem Hauch von Zweifel in der Stimme. Sie hatte schon recht: Es konnte nicht unmittelbar einleuchten, wenn ich sagte, ich würde früher gehen. Jahrelang hatte ich viel Aufhebens um die Bedeutung meiner Arbeit gemacht, um ja nicht meine Eltern treffen zu müssen. Ich hatte sogar nächtliche Besprechungen erfunden, um Geburtstagsessen absagen zu können. Nun fiel eben alles irgendwie aus dem Rahmen. Mein Leben nahm eine entscheidende und reichlich unerwartete Wendung, und ich zeigte meiner Familie, wo es langging.
Wie angekündigt, kam Gaillard wieder, um mir das neue Projekt vorzustellen. ** Es ging um einen Parkplatz, der auf einem Gelände gebaut werden sollte, auf dem bis vor Kurzem noch ein asbestverseuchtes Gebäude gestanden hatte, das man mittlerweile abgerissen hatte. Da unklar war, was mit dem Areal geschehen würde, hatte die Gemeinde vorerst beschlossen, dort vorsichtshalber nur einen Parkplatz zu errichten. Man müsse sich demnächst mal mit den beteiligten Parteien zusammensetzen. Gaillard riet mir hinzufahren und vor Ort ein bisschen die
Atmosphäre zu schnuppern.
Ja, das waren genau seine Worte, und er fügte noch hinzu:
«Es gibt ganz gute Verkehrsanbindungen. Von der Gare du Nord fährt der Regionalexpress direkt, und danach gibt’s einen Bus.»
«…»
«Du musst dich bloß erkundigen, wann die Busse fahren. Ich glaube, es fährt alle Stunde einer. Okay, halt mich auf dem Laufenden.»
Als er wieder draußen war, blätterte ich die Unterlagen durch. Zwanzig Jahre Berufserfahrung, um nun auf einer solchen Praktikantenmission zu landen. Das war in der Welt der Akten die unwichtigste Akte, die man sich vorstellen konnte. Ich hatte Lust, alles hinzuwerfen und zu gehen. Man wollte mich endgültig zur Strecke bringen – das lag auf der Hand. Das war Mobbing, aber ich durfte jetzt nicht die Nerven verlieren. Ich hatte gar keine Wahl. Ich musste denKredit für das Haus zurückzahlen, das Studium meiner Kinder finanzieren, für die Rente vorsorgen. Und wenn ich tatsächlich sterben sollte, starb ich lieber als Angestellter denn als Arbeitsloser.
* Ich meine das Sternzeichen. Und mein Aszendent Skorpion schlägt sich vor allem in einer übertriebenen Neigung, ein Schattendasein zu führen, nieder.
** Natürlich betrat er ohne anzuklopfen mein Büro, aber wenn ich anfangen würde, all seine Taktlosigkeiten aufzuzählen, könnte ich wahrscheinlich nicht mehr aufhören.
22
Intensität der Schmerzen: 7
Gemütslage:
Weitere Kostenlose Bücher