Zum Glück Pauline - Roman
dieses Essen arrangiert hatte. Weil ich mich nach der Kernspinuntersuchung so elend gefühlt und das Verlangen gehabt hatte, meine Eltern und meine Kinder zu sehen (auch mein Sohn fehlte mir sehr). Aber ich hatte schon oft das Gegenteil von dem gemacht, was ich hätte tun sollen. Es war selten, dass ich kühlen Kopf bewahrte und die richtige Entscheidung traf. Ich musste immer erst einen Fehler machen, um zu merken, dass ich das falsche Gespür gehabt hatte. Aber diesmal hatte ich wenigstens eine Entschuldigung. Ich hatte Angst zu sterben. Sollte ich das sagen? Die Angst mit meiner Familie teilen? Die Hartherzigkeit meines Vaters hielt mich zurück. Aber es war bestimmt besser so. Es war auch nicht meine Art, mich mit meinen Schmerzen zu einem
Coming-out
hinreißen zu lassen. Ich hatte noch nie einen Drang zur Selbstinszenierung besessen. Ich war eben einem spontanen Impuls gefolgt, und es war nicht schlimm, wenn das Ergebnis nun desolat war. Wir saßen beisammen, und hier und dafand ich unseren Familienirrsinn, den ich gewohnt war wie eine sanfte Droge, auch wieder ganz sympathisch. Ich hatte mich in diesem Dekor eingerichtet, es war das unveränderliche Dekor meines Lebens. Also redete ich nicht von meinen Schmerzen, als ginge es darum, das reibungslose Sinken eines Schiffes zu gewährleisten.
Trotz meines Bestrebens, eine gute Figur abzugeben, kam der Punkt, an dem die Schmerzen nicht mehr zu unterdrücken waren. Unter nervösen Krämpfen und anarchischen Zuckungen entgleisten meine Gesichtszüge und verzogen sich unversehens zu Grimassen. Offensichtlich waren durch das Gespräch mit meinem Vater und die unablässige Befragung zu dem gescheiterten Projekt die alten Wunden wieder aufgerissen. Sodass mir nichts anderes übrig blieb, als zu gestehen.
«Was ist denn?», fragte meine Mutter. «Du bist ja ganz weiß im Gesicht.»
«Oh ja … was ist denn los mit dir?», sorgte sich Alice.
«Tut dir wieder der Rücken weh?», erkundigte sich Élise.
Ich nickte. Meine Mutter fragte, was denn mit meinem Rücken sei, doch mir blieb keine Zeit zu antworten, denn mein Vater verkündete:
«Das hatte ich auch mal. Als ich so alt war wie du … das waren wirklich schreckliche Schmerzen … es gibt da ein paar empfindliche Stellen am Rücken … da macht man was durch … na ja, aber ich bin viel Schwimmen gegangen, das hat die Muskulatur wieder gestärkt …»
Er erzählte tatsächlich von sich selbst, während ich mich hier vor Schmerzen krümmte. Es war befremdend zu hören, dass auch er in meinem Alter mit Rückenproblemen zu kämpfen gehabt hatte. Wir entdeckten nicht allzu oft Gemeinsamkeiten. Aber es war recht unwahrscheinlich, dass er das Gleiche gehabt hatte wie ich. Er hatte bestimmt einen Hexenschuss gehabt, den Krebs hatte er für mich aufgehoben.
Gestützt auf meine Frau, schleppte ich mich zum Sofa und legte mich hin.
«Ich dachte, dir geht’s wieder besser …», meinte sie.
«Ja, mir ging’s auch wieder besser … es hat nur gerade wieder angefangen …»
«Du solltest vielleicht mal zum Osteopathen gehen.»
«Ich werde zum Osteopathen gehen. Édouard hat mir schon einen empfohlen.»
«Na ja, aber dann geh doch auch hin. Du redest immer nur und tust dann doch nichts.»
«Ich geh ja hin …»
Meine Mutter gesellte sich zu uns:
«Geht’s besser? Du machst mir ja richtig Sorgen.»
«Ja, schon wieder besser», sagte Élise. «Er war vorgestern beim Röntgen, da hat man nichts festgestellt. Und morgen geht er zum Osteopathen.»
«Ja, genau … geh da hin … du schaust echt nicht gut aus …»
«Das wird schon wieder, ich hab ja Tabletten. Mach dir keine Sorgen, Mama.»
«Na gut … aber ich glaube, wir gehen dann besser. Du musst dich erholen …»
Ich versuchte nicht, sie aufzuhalten. Das Reden strengte mich zu sehr an. Ich erwähnte nur noch die marokkanischen Spezialitäten, die es zum Dessert hätte geben sollen. Sie sollten sie essen. Ich umarmte meinen Vater, bevor ich hinauf ins Schlafzimmer ging. In seinem Blick glaubte ich so etwas wie Geringschätzung zu lesen, bestimmt verübelte er mir das eher ungeordnete Ende des Abends. Außerdem hatte ich ihn um ein paar Tiraden und den anzunehmenden finalen Schwall zum Nachtisch gebracht. Aber er stand auf und sagte:
«Ja, du musst dich ein bisschen erholen, mein Großer. Morgen sieht die Welt schon wieder anders aus.»
Seine zärtlichen Worte ließen mich perplex zurück.
26
Intensität der Schmerzen: 8,5
Gemütslage: am Rande des
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