Zum Glück Pauline - Roman
Zusammenbruchs
27
Vor Élise hatte ich meine Schmerzen zwei Tage lang verbergen können, doch als meine Eltern auftauchten, war die Vorstellung zu Ende. Kurz nachdem sie gegangen waren, kam Alice herein. Sie schaute mich besorgt an.
«Geht’s dir wieder besser?»
«Ja.»
«Mama hat gesagt, dass du die Schmerzen schon seit ein paar Tagen hast.»
«Du kennst ja deine Mutter, sie übertreibt immer ein bisschen. Nein, mir geht’s gut, wenn ich hier so liege.»
«…»
«Tut mir leid wegen des Essens.»
«Macht nichts. Ich bin sowieso total müde. Ich hab zu Michel gesagt, dass ich heute bei euch übernachte …»
«… Michel … geht’s ihm gut?»
«Ja, danke. Sehr gut.»
«Wieso ist er nicht mitgekommen?»
«Weil du ihn nicht eingeladen hast.»
Sie hatte recht. Mir war nicht einmal der Gedanke gekommen, ihn einzuladen. Auf dem Bild, das ich von meiner Tochter hatte, war nur eine Person drauf. Aber sie wohnte jetzt mit ihm zusammen, teilte mit ihm das Bett. DasBild, das ich hatte, hing irgendwie in der Vergangenheit fest. Es wollte einfach nicht in der Gegenwart ankommen.
«Stimmt. Ich hätte sagen müssen, dass er gern mitkommen darf …»
«Ach, das sagst du immer so … du sagst auch immer, dass du uns besuchen kommst … und kommst nie.»
«Was?»
«Ja, du sagst immer, dass du dir mal unsere Wohnung anschauen willst, aber nichts passiert.»
«Ja, ich weiß … ich hatte viel zu tun in letzter Zeit.»
«…»
«Ich komm bald, versprochen …»
Tatsächlich hatte ich schon öfter angekündigt, dass ich mal vorbeischauen werde. Und ich war auch schon öfter nahe daran gewesen, diese Ankündigung wahr zu machen. Aber es ging über meine Kräfte, die Wohnung zu betreten, in der meine Tochter nun mit einem älteren Mann zusammenlebte. Alice ging nie in die Luft, da war sie ein bisschen wie ihre Mutter. Sie machte einem keine Vorwürfe, aber ihr Groll war dennoch zu spüren. Mein Verhalten tat ihr weh. Ich musste diesen Kerl kennenlernen, mich für ihn interessieren, und vielleicht würde ich dann auch anfangen, ihn zu mögen (war ja durchaus möglich). Ich hatte ihn ein einziges Mal kurz gesehen, und er hatte sich bemüht, höflich zu sein. Es war komisch, plötzlich in der Haut des Schwiegervaters zu stecken, wo ich mich doch seit geraumer Zeit mit der des Schwiegersohns angefreundet hatte. In solchen Momenten wird einem bewusst, wie die Zeit rast, wenn man dem gegenübersteht, der man einmal gewesen war. Auch wenn ichnicht mehr die Rolle des Enkelkinds spielen durfte, da meine Großeltern schon tot waren, würde ich doch sicher selbst bald in die des Großpapas schlüpfen, die mir bisher nur aus der umgekehrten Perspektive bekannt war. Die Rollen wurden getauscht.
Alice küsste mich auf die Stirn, so wie man einen Sterbenden zum Abschied küsst, und ging schlafen. In der Tür drehte sie sich noch einmal kurz um, um mir einen letzten Blick zuzuwerfen. Einen Blick, der mich erschreckte. Das ist nicht zu viel gesagt. In diesem Blick erkannte ich, dass unsere Beziehung einen ersten Riss bekommen hatte. Ihr Ton war sanft gewesen, aber ihr Blick sprach aus, was wirklich in ihr vorging, ließ ahnen, wie breit der Graben zwischen uns geworden war. Bei Freunden lassen sich die Sachen mit Worten korrigieren. Bei den eigenen Kindern nicht. Da ist die Beziehung tiefer, das Band stärker, und damit ist man auch verletzlicher. Ich fürchtete, den Schaden nicht wieder reparieren zu können. Fürchtete, dass das, was ich mit meinem Schweigen und meinem Ungeschick angerichtet hatte, nicht wieder gutzumachen war. Ihr Blick sagte mir, dass es um uns viel schlimmer bestellt war, als ich gedacht hatte.
Einige Augenblicke später erschien Élise.
«Ich hab aufgeräumt … was für ein Abend …»
«…»
«Du siehst besser aus.»
«Ja … mir geht’s auch besser … keine Ahnung, woher das so plötzlich kam …»
«Na, von deinem Vater! Da kann man schon mal an die Decke gehen.»
«Na ja, aber ich bin das eigentlich gewohnt, sonst kriege ich ja auch nicht solche Schmerzen davon …»
«Aber langsam dürfte dir schon mal der Kragen platzen … sein Verhalten ist einfach inakzeptabel … ich hab übrigens auch langsam die Schnauze voll.»
«Du? Aber dich vergöttert er doch.»
«Ich rede von seinem Verhalten dir gegenüber. Ich kann es nicht mehr hören, das ist doch jedes Mal dasselbe. Aber du müsstest ihm auch mal die Meinung geigen. Doch du machst es nicht. Nie. Ich denke mir jedes Mal, das ist die
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