Zum Glück Pauline - Roman
bewegen musste. Wie sich jedoch herausstellen sollte, war mir diese Ruhe nicht vergönnt.
* Als wäre das Kranksein nicht schon schlimm genug, bestraft man Kranke doppelt, indem man sie auch noch vom aktuellen Geschehen abschneidet. Ist das nicht ungerecht?
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Intensität der Schmerzen: 9
Gemütslage: hasserfüllt
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Ich merkte nicht gleich, dass irgendetwas passiert sein musste. Zwar registrierte ich, dass das Auto meiner Frau vor der Tür stand, aber ich fand es gar nicht außergewöhnlich, dass nirgendwo im Haus Licht brannte. Wahrscheinlich war sie noch schnell etwas besorgen gegangen oder schaute auf einen Sprung bei einer Nachbarin vorbei. Ich legte meine Schlüssel auf die Ablage in der Diele und wandte mich der Treppe zu. Nur noch wenige Meter trennten mich von meinem Bett und den Tabletten. Ein nicht enden wollender Tag neigte sich dem Ende zu. Jeder Schritt kostete übermenschliche Anstrengungen. Nach drei Stufen brauchte ich eine Pause. In dem Augenblick bildete ich mir ein, ein Geräusch wahrzunehmen, das aus dem Wohnzimmer zu kommen schien. Eine Art unterdrücktes Schluchzen.
«Ist da jemand?»
«…»
Keine Antwort. Besorgniserregend. Das Geräusch war nicht verstummt: Offenbar war da jemand. Einbrecher, dachte ich sofort, aber das war angesichts der Tatsache, dass das Geräusch von jemandem auszugehen schien, der sich überhaupt nicht bewegte, eine seltsame Mutmaßung. Ich fragte erneut, ob da jemand sei. Immer noch keine Antwort. Ich war meinem Bett und der wohlverdienten Ruhe schon sonahe gewesen, und jetzt musste ich noch einmal umkehren und schauen, was da los war. Langsam schlich ich wieder nach unten (schnell hätte ich zwar gar nicht gekonnt, dennoch war ich vor allem aus Vorsicht langsam). Als ich die Diele erreichte, beugte ich den Oberkörper leicht nach vorn, um einen Blick ins Wohnzimmer riskieren zu können, ohne selbst gesehen zu werden. Ich erspähte eine Art Schatten.
«Élise … bist du das?»
«…»
«Élise?»
«Ja …» wisperte sie leise.
Ich wollte schon Licht machen, besann mich jedoch. Wenn sie im Dunkeln saß, musste es Gründe dafür geben. Ich ging auf sie zu, und jetzt erkannte ich auch, was das für ein Geräusch gewesen war, das ich von der Treppe her gehört hatte: Sie weinte.
«Was hast du denn?»
«…»
«Sag doch, was los ist …»
«… Mein Vater …»
«…»
«Mein Vater ist tot.»
Vor diesem Augenblick hatte ich immer Angst gehabt, vor allen Dingen damals, als er so schwer krank gewesen war. Ich hatte immer gewusst, der Tod ihres Vaters würde einen Zusammenbruch bedeuten für sie. Ich wusste, wie sehr sie ihren Vater liebte. Wusste, dass sie im Grunde immer seine Kleine geblieben war. Ich war vollkommen durcheinander. Versuchte, sie irgendwie zu trösten, aber sie wirktewie erstarrt. Ihre Arme waren total steif, ihr gesamter Körper fühlte sich an wie Stein. Ich streichelte ihre Haare und wusste nicht, was ich sagen sollte. Was sagt man in solchen Augenblicken? Vielleicht reicht es, einfach nur da zu sein. Dieser Schlag traf uns in einem Moment, in dem wir überhaupt nicht damit gerechnet hatten. Damals, als er so mutig gegen seinen Krebs angekämpft hatte, hatte sich Élise auf das Schlimmste vorbereitet. Hatte sich konkret mit dem Gedanken auseinandergesetzt, dass ihr Vater sterben könnte. Doch diese Zeit war vorübergegangen, und eine neue Leichtigkeit war eingekehrt. Und nun, da der Heilungsprozess, den alle als sagenhaft empfunden hatten, abgeschlossen war und er den Krebs besiegt hatte, starb er auf einmal.
«Er ist hingefallen …»
«Was?»
«Er ist auf der Treppe ausgerutscht … und hat sich das Genick gebrochen …»
Das durfte doch nicht wahr sein. Nicht ihr Vater. Dieses Ende kam mir vollkommen absurd vor. Er war nicht der Typ, der hinfiel. Er hatte immer aufrecht gestanden. Und war aufrecht gegangen. Selbst als er so krank gewesen war, selbst als der Tod an seine Tür geklopft hatte, hatte er ihn aufrecht empfangen. Und nun endete der erste Sturz tödlich. Das war einfach lächerlich. Ich hatte immer einen Mann erlebt, in dem das pralle Leben steckte, der vor Charisma sprudelte, und nun ging alles mit einem Ausrutscher zu Ende.
«Wir müssen fahren …» sagte Élise leise.
«…»
«Meine Mutter erwartet uns …»
Sie sagte das so, schien aber zu keiner Bewegung fähig. Wir blieben noch eine ganze Weile im Dunkeln sitzen. Meine Rückenschmerzen waren weg. Der dramatische Lauf der Ereignisse hatte sie
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