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Zum Glück Pauline - Roman

Zum Glück Pauline - Roman

Titel: Zum Glück Pauline - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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Élise weinte, und ich saß neben ihr, ihre Hand in der meinen.
    «Du musst furchtbar müde sein … leg dich doch hin», sagte sie.
    Es kam mir so vor, als würde ich stören. Sie wollte mich ins Bett schicken, aber nicht aus Rücksicht, sondern weil sie diesen Augenblick lieber mit ihrer Mutter teilte. Dabei waren die beiden nicht allein. Wahrscheinlich blieben sogar nicht wenige Gäste über Nacht, um eine improvisierte Totenwache zu halten. Ich hatte ihren Ton vielleicht falsch interpretiert, aber ich hatte das Gefühl, dass sie versuchte, mich von dieser Gesellschaft auszuschließen. War sie der Ansicht, dass ich ihren Vater nicht genug geliebt hatte? Oder wollte sie mich loswerden, nach dem, was sie in meinem Blick gelesen hatte? Ich konnte den Gedanken, dass sie das Leuchten von Sankt Petersburg in meinen Augen gesehen hatte, nicht beiseiteschieben.
    «Ja … na gut …» antwortete ich nach einer Weile.
    «Ihr könnt im Büro schlafen, da steht ein Sofa, das ihr aufklappen könnt …», sagte Élises Mutter.
    «Danke vielmals …»
    Mein «danke vielmals» war sicherlich etwas übertrieben ausgefallen, aber mir tat diese Frau so leid. Sie musste unvorstellbaren Kummer empfinden. Vierzig Jahre lang war sie quasi keinen Tag ohne ihren Mann gewesen. Wie meine Eltern gehörten auch die von Élise jener Generation an, für die ein Zusammenleben
immer zusammen sein
bedeutete. Das Leben des einen deckte sich mit dem desanderen. Selbst wenn er auf Forschungsreise ging, kam sie mit nach Prag, obwohl sie das alles überhaupt nicht zu interessieren schien. Wie kommt man über einen Tod hinweg, den man als Amputation seiner selbst erlebt? Von nun an würde sie allein durch das gemeinsame Reich irren, in Stiefeln, in die sie zweimal hineinpasste.
    Als ich das Wohnzimmer verließ, flüsterte ich meiner Frau ins Ohr, dass ich sie liebte. Ich setzte hinzu: «Weck mich jederzeit auf, wenn du mich brauchst …» Sie strich mir stumm über die Hand, sagte nicht etwa, dass sie mich auch liebte. Ich ging verunsichert nach oben. Um es deutlich zu sagen: Der einzig nützliche Part, den ich bislang in diesem Drama gespielt hatte, war der, dass ich Inhaber eines Führerscheins war. Es war schmerzlich, sich so ausgestoßen zu fühlen, wo ich doch mein Leid mit den anderen teilen wollte. Aber ich durfte nicht so denken. Konnte an diesem Abend doch keine Gefühlsansprüche stellen. Nach der Erschütterung, die der Tod ihres Vaters ausgelöst hatte, hatte Élise das Recht, alle Empfindungen dieser Welt zu haben, die ich weder gutzuheißen noch zu verurteilen brauchte. Ich durfte sie lediglich im Stillen kommentieren, was ich mit lautem inneren Getöse ja auch tat.

42
    Intensität der Schmerzen: 3

Gemütslage: durcheinander

43
    Ich dachte eigentlich, ich würde sofort in mich zusammensacken und nicht einmal das Sofa aufklappen, doch dann fiel mein Blick auf ein paar Blätter, die auf dem Schreibtisch herumlagen. Es war wie einen leblosen Körper zu berühren, der noch warm war. Die Worte auf diesem Papier waren noch genauso warm, es war, als würde der Stift, der die Worte auf diesem Papier geschrieben hatte, noch von einer Hand gehalten werden. Das waren also die letzten Worte, die dieser Mann geschrieben hatte. Wie oft hatte er leidenschaftlich von seinem Buch gesprochen, hatte sich vorgestellt, wie man ihn interviewte und wie sein Buch vielleicht sogar als Material im Geschichtsunterricht verwendet werden würde. Er hatte sich so auf die Rente gefreut, darauf, sich endlich auf dieses Projekt konzentrieren zu können. Ich zog die Schubladen auf und stieß auf Hundertevon beschriebenen Seiten, die mit allerlei an den Rand gekritzelten Anmerkungen versehen waren und sich mit anderen Dokumenten und Zeitungsausschnitten vermischten. Ich setzte mich auf seinen Stuhl, der Anblick dieser Unmenge von Arbeit, die nie das Licht der Öffentlichkeit erblicken würde, machte mich sprachlos. Das war also das
Unvollendete
, das mir fast noch grausamer erschien als der Tod selbst.
    Ich wollte mich gewiss nicht mit ihm vergleichen, aber ich musste wieder an den Roman denken, den ich einmal vorgehabt hatte zu schreiben und der ebenfalls nicht über das Stadium des Unvollendeten hinausgekommen war. Ich hatte ebenfalls schon unzählige Seiten geschrieben. Es war das zweite Mal heute, dass ich an meine einstigen literarischen Ambitionen dachte. Diese verwaisten Seiten erinnerten mich an das, was ich nicht zu Ende gebracht hatte. Es ging nicht darum, ob

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