Zum Glück Pauline - Roman
vollkommen niedergeschmettert gewesen war, es mittlerweile eilig hatte. Sie wollte so schnell wie möglich zu ihrer Mutter.
An der nächsten Tankstelle fragte ich den Mann an der Kasse, ob er mir wechseln könne für den Getränkeautomaten. Wortlos händigte er mir das Kleingeld aus. Meine Frau lehnte an einem der am Boden festgeschraubten Stehtische(es gab hier keine Sitzgelegenheiten). Ich erkundigte mich, was für einen Kaffee sie wolle. «Einfach bloß irgendeinen Kaffee», gab sie zur Antwort. Es war nicht der Moment, ihr weitere Fragen zu stellen. Groß, klein, Espresso, mit oder ohne Zucker, mit Milch, ich kam mir angesichts der Vielzahl der Möglichkeiten etwas verloren vor. Schließlich nahm ich zwei Espresso ohne Zucker, ich fand, die kargste Option entsprach am besten der Situation. Élise griff nach dem Becher und sagte danke. Sie wirkte dabei vollkommen unbeteiligt, sagte danke, wie man zu einem Freund oder Bekannten danke sagt.
Es war ein trauriger Augenblick. Freilich waren auch die Umstände traurig. Aber da war noch etwas anderes, das schwer in Worte zu fassen war. Es gibt Katastrophen, die die Leute zusammenschweißen: Man hält sich in den Armen und schwört sich insgeheim, sich in Zukunft noch fester zu lieben. Bei anderen Tragödien wiederum fühlt man sich nur innerlich leer. Élise und ich schauten uns an, und es gab so wenig, was uns verband. Es war, als wohnten wir in einer verlassenen WG. Wir tranken unseren Espresso, der genauso schmeckte wie Suppe und der geradezu als Symbol für unsere Beziehung gelten konnte: Denn auch die war zu etwas Undefinierbarem verkommen. Meine Frau schien in mir nicht den Mann zu sehen, der in der Lage war, sie zu beschützen. Sie versuchte, allein mit dem Schock fertig zu werden. Und ich erkannte in meiner Unfähigkeit, sie zu trösten, die Grenzen dessen, was ich immer optimistisch als unsere Liebe bezeichnet hatte.
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Intensität der Schmerzen: 3
Gemütslage: jenseits der Müdigkeit
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Mitten in der Nacht kamen wir an. Élises Mutter erwartete uns, sie war von zahlreichen Angehörigen umringt. Sie befand sich in einem Zustand, der dem ihrer Tochter frappierend ähnelte. Das heißt, sie befand sich eigentlich in
genau
dem gleichen Zustand wie ihre Tochter. In beiden Gesichtern der gleiche Ausdruck von Trauer, dieselbe Art, Leiden zu empfinden. Sie setzten sich nebeneinander aufs Sofa. Alle Anwesenden bekundeten ihr Beileid. Man kam auch zu mir, um mir Beileid auszusprechen. Merkwürdigerweise half mir das, mir allmählich bewusst zu werden, wie sehr dieser Tod auch mich betraf. Ich stand in vorderster Front. Die Anteilnahme der anderen erzeugte endlich ein Gefühl der Trauer in mir. Bis jetzt hatte ich mich nur bemüht, angemessen zu reagieren, für meine Frau da zu sein. Doch allmählich ließ die Anspannung nach, und ich dachte an meinen Schwiegervater.
Ich hatte ihn seit dem frühen Erwachsenenalter gekannt. Einige reichlich ungeordnete Bilder kamen mir in den Sinn, Erinnerungsfetzen, die zum wunderlichen Wesen unserer Beziehung passten. Es ist immer seltsam, was von so einer Verbindung im Gedächtnis haften bleibt. Nicht unbedingt die wichtigen Gespräche. Der Kopf entscheidet ganz willkürlich, was er behalten mag. Der meine wählte als Erstes einen verborgenen Winkel im Garten aus, wo er immer heimlich geraucht hatte. Es gefiel mir so, dass dieser imposante Professor sich versteckte wie ein Kind, das ein schlechtes Gewissen hat, um vor seiner Frau sein Laster zu verbergen. Ich erinnerte mich auch an seine Begeisterung für die Tour de France. Vor allem die Bergspezialisten versetzten ihn derart in Verzückung, dass er ganze Nachmittage stehend vor dem Fernseher verbringen konnte, wenn es die Etappen nach L’Alpe d’Huez oder zum Col du Tourmalet hinaufging. Schließlich sah ich ihn zu Tränen gerührt vor mir, als Alice ihre ersten Schritte machte. Meine Gedanken nahmen die unterschiedlichsten Abzweigungen, und ich begegnete ergreifenden Bildern von ihm. Die erste Zeit, in der er alles unternommen hatte, um mich in Verlegenheit zu bringen, verdrängte ich unbewusst. Alle in diesem Raum schufen sich ihr eigenes Bild von ihm. Er wohnte in uns allen.
Es waren auch viele Freunde der Familie da. Man spürte, wie sehr dieser Mann geliebt worden war. Studenten und Kollegen, alle hatten sich spontan versammelt, wie um gegen das Schicksal zu demonstrieren. Ich hörte, wie sie überihn sprachen, und war mit dem meisten, was ich hörte, einverstanden.
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