Zum Glück Pauline - Roman
verscheucht. Mein Leid löste sich in einem anderen Leid auf. Ich opferte mich ganz für meine Frau auf. Wobei, das stimmt so nicht ganz. Ich schäme mich, es zuzugeben. Aber es ging noch etwas anderes in meinem Kopf um. Ich traue mich kaum, es zu sagen, aber während meine Frau in Trauer versank, dachte ich an die Reise nach Sankt Petersburg. Hat man so etwas schon mal gehört? Ich war ein Monster. In ein paar Tagen würde ihr Vater beerdigt werden, und meine Gedanken waren bei meinem kleinen Ausflug, den ich jetzt abblasen musste. Wo ich mich so darauf gefreut hatte. Aber das war doch nicht wirklich wichtig. Warum wurde ich diesen Gedanken nicht wieder los? Wir konnten die Reise genauso gut verschieben. Das alles stand in überhaupt keinem Verhältnis zu der Tragödie, die sich gerade abspielte. Das war mir zwar irgendwie klar, aber ich konnte nicht aufhören, an Sankt Petersburg zu denken, während ich Élise streichelte und ihr Beistand leistete. In meinem Kopf geisterten die abscheulichsten Ideen umher. Ich sagte mir, wenn man ihn schnell beerdigte, könnten wir vielleicht noch los. Eine hässliche Kalkulation. Welcher Mann lässt sein Frau, die gerade ihren Vater beerdigt hat, einfach so im Stich? Alles Mitgefühl dieser Welt konnte mich nicht davon abhalten, nur an mich und meine niederen Pläne zu denken.
Endlich stand sie auf und schaltete das Licht an. Sie schaute mir
tief in die Augen.
Und daran besteht für mich kein Zweifel: Sie konnte meine Gedanken lesen. Sie las in meiner schrecklichen Enttäuschung, dieser scheußlichen Enttäuschung, die sich in meinem Hirn festgesetzt hatte. Ich verstand selbst nicht, wie ich so gefühllos sein konnte, aber es war nichts zu machen. Man ist nicht Herr seiner Gedanken. Dabei liebte ich ihren Vater. Ich war von seinem Tod tief getroffen. Wirklich tief getroffen. Doch der Umstand, dass meine Reisepläne platzen sollten, traf mich eben offensichtlich ungleich mehr.
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Intensität der Schmerzen: 5
Gemütslage: von Schuldgefühlen geplagt
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Nachdem ich einige Minuten durchs Haus geirrt war und ein paar Sachen zusammengepackt hatte, fuhren wir los.
«Bist du dir sicher, dass du überhaupt fahren kannst?»
«Ja.»
«Bist du nicht müde?»
«Nein, geht schon. Mach dir deswegen keine Sorgen.»
Das Drama versetzte uns in einen Zustand weit jenseits der Müdigkeit. Wenn wir uns beeilen würden, wären wir in vier Stunden da. Wir sprachen ziemlich wenig auf der Fahrt, warfen uns nur ab und zu ein paar Brocken zu, an ganze Sätze kann ich mich gar nicht erinnern. Aber nach etwa einer Stunde erkundigte sich Élise plötzlich:
«Und was macht dein Rücken?»
«Ja, geht ganz gut … ich war beim Osteopathen vorhin …»
«Ah … bei dem Bekannten von Édouard?»
«Genau …»
«Und hat’s was gebracht?»
«Ja … denk schon … mir geht’s besser …»
Élise schien einen Moment zu überlegen und sagte dann:
«Vielleicht hängt das auch alles irgendwie zusammen …»
«Was hängt zusammen?»
«Na deine Rückenschmerzen und Papas Tod.»
«Wie meinst du das?»
«Der Körper weiß manchmal mehr als der Geist. Vielleicht hattest du so eine Art Vorahnung … dass uns ein schlimmes Ereignis bevorsteht … und das hat sich in Form von Rückenschmerzen ausgedrückt …»
«…»
Ich wusste nicht recht, was ich von dieser Hypothese halten sollte. Meine Rückenschmerzen als eine Art Vorbote. Demzufolge konnte mein Rücken also in die Zukunft sehen.
Ein bisschen so wie jene Leute, denen das Knie wehtut, bevor es zu regnen beginnt. Aber warum hatte ich es dann gespürt, und nicht sie? Schließlich hatte meine Reaktion auf die Nachricht vom Tod meines Schwiegervaters gezeigt, dass ich in Bezug auf ihn nicht gerade sehr feinfühlig war. Élise klammerte sich an seltsame Theorien und wandte sie praktisch an. Sie sträubte sich mit allen Mitteln gegen die grausame Wirklichkeit. Ich hätte gern mit ihr an die seherischen Kräfte meines Körpers geglaubt.
Die Autobahn war wie ausgestorben. Niemand fuhr zu dieser Uhrzeit mehr in die Bretagne. Von den Tankstellen und Rastplätzen ganz zu schweigen. Der Tod führte uns in eine entvölkerte Welt, in die kein glücklicher Mensch sich je vorgewagt hätte.
«Vielleicht sollten wir mal Pause machen?», schlug Élise vor.
«Wie du willst. Ich kann schon noch fahren.»
«Machen wir eine Pause …»
Mir war schon seit einer Weile danach, mal anzuhalten, aber ich hatte gespürt, dass meine Frau, nachdem sie zu Hause noch
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