Zum Glück Pauline - Roman
bestätigen. Anfangs hatte er mich etwas farblos gefunden. Aber ich war einfach nur eingeschüchtert von ihm. Er war auch nicht sonderlich begabt darin, anderen einen Platz einzuräumen, in dem Punkt glich er meinem Vater. Er musste immer der Mittelpunkt der Welt sein. Insofern ja, die Beerdigung hätte ihm bestimmt gefallen.
Seitdem mich diese Rückenschmerzen plagten, hatte ich an nichts anderes mehr gedacht. Nur noch das war wichtig gewesen. Ich hatte Grund gehabt, mir Sorgen zu machen, aber hatte ich mir nicht ein bisschen viele gemacht? Meine Schmerzen, immer nur meine Schmerzen. Aber so ist es immer: Sobald man sich mit wirklichen Tragödien konfrontiert sieht, kommt man sich nur noch lächerlich vor und denkt, dass man aus einer Mücke einen Elefanten gemacht hat. Aus einer läppischen Mücke. Angesichts der Katastrophen, die andere erleben, nimmt man sich gern allerhand vor. Man sagt sich, man müsse das
alles relativ
sehen. Doch die gutenVorsätze halten meist nicht lange vor. Und schon regt man sich wieder über Lappalien und über nichts und wieder nichts auf. Bis auf Weiteres musste ich mir einbläuen, dass alles in Ordnung war mit mir. Ich war immer noch da. Die Computertomographie hatte nichts Schlimmes zutage gefördert, es gab keine größeren Probleme, und ich hatte zwei gesunde Kinder. Das war doch schon mal was. Ich erwies einem Mann die letzte Ehre, dessen Asche sich bald mit der Erde vereinen würde, wie es unser aller Schicksal war, und zum ersten Mal seit Langem machte sich ein Lächeln auf meinem Gesicht breit.
ZWEITER TEIL
1
Immer wieder zog ich meinen Stadtplan hervor. Ich kannte mich weder in dem Viertel aus, noch war mir dieser Straßenname je zuvor untergekommen. Aber ich wollte unter keinen Umständen zu spät kommen. Der eindeutige Beweis dafür, dass das Verhältnis zu einem Arzt immer auf folgendem Ungleichgewicht beruht: Der Arzt hat ein Wartezimmer und verfügt über das Recht, einen warten zu lassen. Aber wehe, der Patient erlaubt sich, zwei Minuten zu spät zu kommen. Zumal auf der Sache ja auch noch ein anderer seltsamer Fluch liegt: Immer wenn man pünktlich kommt, muss man warten. Und wenn man mal ein bisschen aufgehalten worden ist, ist der Arzt plötzlich auf wundersame Weise pünktlich.
Élises Schwester Alexia hatte mir die Adresse einer Magnetfeldtherapeutin gegeben. Bei dem kleinen Umtrunk, der im Anschluss an die Beerdigung stattgefunden hatte, war sie auf mich zugekommen.
«Sieht so aus, als hättest du Rückenprobleme.»
«Äh … ja …», sagte ich. Es war mir peinlich, hier von meinen Rückenschmerzen zu reden.
«Ich weiß eine sehr gute Magnetfeldtherapeutin. Da solltestdu mal hingehen. Sie wird dir deine Chakren öffnen, dann geht’s dir gleich viel besser …»
«Ah … okay …»
«Nein, echt, vertrau mir … geh da hin …»
Ich war gern bereit, ihrem Ratschlag zu folgen. Dazu schob ich Élises andauerndes Geläster über ihre Schwester am besten irgendwie beiseite: «Die hat total einen an der Waffel! … Hast du schon das Neueste gehört?» Nein, ich hatte das Neueste noch nicht gehört. Es gab immer das Neueste, das das vorherige weit in den Schatten stellte. Das Neueste also war, dass sie nach Ägypten auswandern wollte, weil sie glaubte, eine Cousine von Ramses zu sein. Ich hatte mit Alexia immer etwas zu lachen. Ihre exzentrischen Anwandlungen, die meine Frau als Zeichen des Wahnsinns deutete, fand ich eigentlich eher lustig. Im Laufe der Jahre hatte ich in Bezug auf das Verhältnis der beiden Schwestern zueinander eine Theorie entwickelt. Élise war vom Vater stets bevorzugt worden, und die kleine Schwester strengte sich an, um auf sich aufmerksam zu machen. Ich lag wohl nicht ganz falsch, denn der Tod des Vaters sollte der Rivalität der Schwestern plötzlich den Boden entziehen. Es wurde ruhiger um Alexia. Ihr Gefühl, überhaupt nicht existent zu sein, nahm deutlich ab, nachdem sie der bevorzugten Spielwiese, auf der sie sich zuvor ausgetobt hatte, beraubt worden war. Die traurige Konsequenz davon war, dass die Schwestern sich allmählich auseinanderleben sollten. Ihre chaotische Beziehung konnte sich an die neuen Gegebenheiten nicht anpassen: an ein Leben ohne den Vater. Wenn eine derart dominante Persönlichkeit abtritt, reißen manchmal die Verbindungenzwischen den Untergebenen ab. Mir war nie ganz klar gewesen, wie Élise wirklich zu ihrer Schwester stand. Meine Frau war den meisten Menschen gegenüber offen und
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