Zum Glück Pauline - Roman
um die Führung ein bisschen abzukürzen. Sie schien so glücklich, ihre Tatkraft brachte mich zum Schmunzeln. Schließlich baute sie sich vor mir auf und fragte mich, nachdem sie noch einmal tief Luft geholt hatte:
«Und? Was hältst du davon?»
«Wovon?»
«Na, von all den Bildern … die ich dir gezeigt habe.»
«Was ich davon halte?»
«Ja, was du davon hältst.»
«Soll ich es dir wirklich sagen? Ganz im Ernst?»
«Ja … ganz im Ernst …»
«Also gut, ganz im Ernst … sie sind klasse …»
«Echt?»
«Ja, echt. Sie sind wirklich überwältigend.»
20
Intensität der Schmerzen: 2
Gemütslage: verwirrt
21
Mir kam dieses Essen mit Élise fast wie ein erstes Rendezvous vor. Ihre Gesten, die ich in- und auswendig zu kennen geglaubt hatte, hatten mich mit einem Mal befremdet. Irgendwo hatte ich einmal die Geschichte eines Liebespaars gelesen, das nach Jahren des Zusammenlebens eines Tages aufwacht und sich gar nicht mehr wiedererkennt. Die Sinnbildlichkeit der Szene liegt auf der Hand: Die Mühlen des Alltags brauchen nur ein Weilchen zu mahlen, schon nimmt man den anderen nicht mehr wahr. Meine Frau und ich waren zu Liebesautomaten verkommen. Ich fürchtete, unser Gespräch könnte fatale Folgen haben. Und ich musste zugeben: Mir war auch gar nicht so klar, was ich überhaupt wollte. Ich bildete mir ein, dass ich sie liebte, dennoch war ich imstande gewesen, an meine Russlandreise zu denken, als sie mir die schlimme Nachricht vom Tod ihres Vaters verkündet hatte. Und ich hatte auch nicht augenblicklichum sie kämpfen wollen, als sie das Wort «Scheidung» aussprach. Als ich an jenem Abend wieder zu Édouard und Sylvie fuhr, konnte ich mir sogar ein Leben ohne sie vorstellen. Der Gedanke daran erschreckte mich nicht. Zwei Minuten später änderte ich natürlich meine Meinung, wie das in Herzensangelegenheiten so gang und gäbe ist. Élise und ich waren wie füreinander geschaffen, dessen war ich mir sicher. Eine Trennung kam nicht infrage. Und schon gar nicht in so einer abscheulichen Pizzeria, wo sie schon seit zehn Minuten auf mich wartete, als ich eintraf.
Sie sah umwerfend schön aus. Ich weiß nicht warum, aber ich dachte: «Vielleicht hat sie ja einen Liebhaber.» In dem Stadium, in dem wir uns befanden, war alles denkbar. Ich setzte mich, schaute sie immer noch an, und ja, ihre Schönheit verwirrte mich ein wenig. Sie packte mich am Schlafittchen. Mein Verstand sagte mir: Es liegt daran, dass du sie mit anderen Augen ansiehst. Man muss geliebte Menschen erst verlieren, um sie mit solchen Augen ansehen zu können. Sie schenkte mir ein Lächeln, dem ich mit einem Lächeln begegnete, und irgendwie schien alles beim Alten geblieben zu sein zwischen uns. Von einer wesentlichen Kleinigkeit abgesehen: Ich hatte sie zur Begrüßung gar nicht geküsst, denn ich wusste nicht recht, wohin mit meinem Kuss. Der Gedanke, sie könnte den Kopf abwenden, wenn ich versuchen würde, sie auf den Mund zu küssen, war mir unerträglich. Die Wange kam nicht infrage. Ich würde mich doch nicht zur Wange meiner eigenen Frau herablassen. Die Wange war für mich ein etwas unbeschriebenes Blatt, die war eigentlichden anderen vorbehalten, aber womöglich auch bald mir. Ich würde mit all den anderen in einen Topf geworfen werden, und dann gehörte ich zum Kreis jener, die meine Frau auf die Wange küssten.
Anfangs rangen wir um Worte, redeten belangloses Zeug und wichen den Hürden der Unterhaltung aus. Doch die Vorräte an Oberflächlichkeit waren bald aufgezehrt. Ich hätte meine Kündigung ins Spiel bringen können, das wäre ein gutes Ablenkungsmanöver gewesen. Aber ich wollte zuerst über uns reden, wollte hören, was sie nun vorhatte. Sie sagte es mir:
«Ich werde mir einen Anwalt * nehmen.»
«…»
Ich weiß, es klingt absurd, aber es ist wahr: Ich dachte erst, sie redet von der Speisekarte. Ich glaubte, sie habe sich entschieden, sich eine Avocado zum Hors d’oeuvre zu genehmigen. Ich überflog die aufgelisteten Vorspeisen, und plötzlich ging mir der Sinn ihrer Worte auf:
«Einen Anwalt?»
«Ja. Ich will das alles sauber geregelt haben. Du musst dir auch einen nehmen. Oder wenn wir uns in allen Punkten einig sind, können wir auch denselben nehmen.»
«…»
War das noch meine Frau, die so redete? Wie hatte dieses praxisorientierte Ungeheuer in ihren Körper schlüpfenkönnen? Als sie das Wort «Scheidung» in den Mund genommen hatte, hatte ich geglaubt, sie meinte eine Trennung. Und zwar: eine
Weitere Kostenlose Bücher