Zum Glück Pauline - Roman
kommen wir zu den wichtigen Dingen des Lebens! Ich präsentiere dir meine Bilder!»
Sylvie beherrschte perfekt diesen Unterton, der etwas Wesentliches verschleierte: Sie liebte es, im Mittelpunkt zu stehen. Ich fand immer, es gehörte eine gewaltige Portion Egoismus dazu, im unerschütterlichen Glauben an das eigene Talent jahrelang so vor sich hin zu malen. Sie zeigte mir ihre neuesten Arbeiten und gab sich so von sich selbst überzeugt, dass die Grenze zum Realitätsverlust verschwamm. Wenn man ihr zuhörte, hätte man meinen können, daspricht eine Künstlerin, die überlegt, welche Bilder sie demnächst im Centre Pompidou ausstellen soll. Dass wir uns hier in ihrer Wohnung befanden und sie sich von ihrem Mann aushalten ließ, konnte sie komplett ausblenden. Sie lebte in einer Märchenwelt und stand mit dem Unaussprechlichen im Bunde. Nie war sie dem Urteil einer Öffentlichkeit ausgesetzt gewesen. Sie kannte diese Gefahr gar nicht. Sie spazierte wie in einem von der Außenwelt abgeschotteten Zoo zwischen ihren Bildern umher. Seit zwanzig Jahren sagten ihr alle, dass sie außergewöhnliches Talent habe. Aber wer sagte das? Ihr Mann, ihre Freunde, die Familie, die Nachbarn. Alle fünf Jahre veranstaltete sie eine Ausstellung in einer ehrenwerten Pariser Galerie. Wenn man dann die Einladung und ihre Kurzbiografie las, hätte man meinen können, Sylvie habe die Aquarellmalerei revolutioniert. Jeff Koons sei stark von ihr beeinflusst. Bei diesen Ausstellungen kauften wir, manipuliert von der fanatischen Lobbyarbeit ihres Mannes, ihre Bilder (bei mir zu Hause musste ein gutes Dutzend davon herumstehen). Man könnte auch sagen, Édouard zwang uns dazu. Er schreckte vor keiner Foltermethode zurück. Wer mit offenem Mund auf einem Zahnarztstuhl liegt, ist mitunter leicht dahin zu bringen, ein Bild zu kaufen: Man braucht nur ein wenig mit dem Bohrer zu drohen. Folglich wurde Sylvie bei den Vernissagen mit Komplimenten überschüttet, nie hätte es jemand gewagt, auch nur den leisesten Misston anzustimmen, ein Fünkchen Wahrheit auszusprechen, und Sylvie durfte sich in der mollig weichen Gewissheit ihres Genies bestärkt fühlen.
Warum ging ich so hart mit ihr ins Gericht? Ich mochte ihre Zeichnungen nicht, sie waren wirklich erstaunlich hässlich, aber es stand mir nicht zu, ihren Lebensstil zu kritisieren. Sie stolzierte zwischen ihren Bildern umher, und auch wenn sie mich mit ihren Kommentaren auslaugte, blieb sie doch goldig in ihrer Zuversicht. Ich sollte lieber von ihrem hoffnungsfrohen Wesen schwärmen, anstatt sie so anzugreifen. Wer war ich denn, dass ich so abfällig über sie urteilte, ausgerechnet ich, der das Leben eines Bücklings führte? Ich hatte meine Schriftstellerträume ja kläglich begraben. Aus Charakterschwäche eigentlich, oder weil ich mir der eigenen Erbärmlichkeit bewusst war? Das Einzige, was uns unterschied, war vorhandenes beziehungsweise nicht vorhandenes Schamgefühl. Ich hätte niemals jemandem meine Arbeiten zeigen können, und noch weniger hätte ich es gewagt, die Leute damit zu belästigen, sie in eine Galerie einzuladen, mich vor sie hinzustellen und darauf zu warten, dass sie ihre Meinung bekundeten. Nie hatte ich jemandem auch nur eine Zeile zu lesen gegeben. Ich war einfach unfähig, dem Urteil der anderen standzuhalten. Ich hatte Angst, sie könnten sagen, dass das, was ich schrieb, schlecht ist. Aber was hatte ich schon geschrieben? Schwülstige Bruchstücke eines Romans und ein paar Notizen dazu. Wenn ich wieder damit anfangen würde, bestand die Gefahr, dass ich ihn wieder nicht zu Ende bringen würde. Ich musste einkalkulieren, dass ich möglicherweise in eine Sackgasse lief. Aber die Welt der Bücher war mir abgegangen. Das sah ich klar wie nie zuvor. Ich fragte mich, wie ich so ganz ohne meine große Leidenschaft hatte leben können. Ich hattedem Wichtigsten abgeschworen, mich total von meiner Quelle entfernt. Das war der Grund meiner inneren Ausgedörrtheit, da war ich mir sicher. Meiner inneren Ausgedörrtheit und meiner Schmerzen. Ich musste ein paar Dinge zurechtrücken, dann würde es mir auch wieder besser gehen. Das wahre Leben wartete auf mich, schon seit zwanzig Jahren.
Nach einer Stunde, in der meine Gedanken oft abgeschweift waren, kamen wir zu Sylvies neuestem Werk. Ich konnte nicht erkennen, worin es sich von den anderen abhob, aber sie meinte, dieses Bild markiere einen
echten Wendepunkt
in ihrer Arbeit. Ich war gern bereit, ihr alles abzunehmen, vor allem,
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