Zum Glück Pauline - Roman
machte, würden meine Rückenschmerzen sicherlich verschwinden. Für manches war es mittlerweile zu spät; für anderes wiederum nicht. Enttäuschung verjährt ja nicht. Man meint immer, es ist zu spät, aber das stimmt nicht. Nichts hinderte mich daran, jemanden aufzusuchen, um ein Gespräch fortzusetzen, das vor zehn oder zwanzig Jahren ein unschönes Ende genommen hatte. Die Sache mit dem Friseur zum Beispiel. Nie werde ich vergessen, wie man mich fahrlässig den Händen dieses Lehrlings überlassen hatte, der mich so übel zurichtete. Man benutzte mich einfach als Versuchskaninchen. Nachdem das Drama seinen Lauf genommen hatte, starrte ich entgeistert in den Spiegel. Ich dachte, ich werde mich den ganzen Sommer in irgendeinem Loch verkriechen. Die anderen Friseure, die herbeiliefen, als sie die Bestürzung in meinem Gesicht lasen, rühmten scheinheilig die Originalität des Lehrlings. Keiner wollte einräumen, dass ich soeben eine Art persönliches Hiroshima erlebt hatte. Ich sehe sie noch vor mir, wie sie einträchtig auf mich einlächelten. Doch das Jämmerlichste von allem war meine Reaktion. Ich begann nämlich auch zu lächeln. Es läuft mir immer noch eiskalt den Buckel runter, wenn ich mich daran erinnere. Vielleicht war in dem Moment, in dem ich zurücklächelte, mein Rückenleiden geboren worden? Ich verließ wortlos den Salon, nachdem ich artig bezahlt hatte. Danach konnte ich nie wieder einen Friseurladen betreten,ohne an das Desaster von 1995 zu denken. Jedes Mal das gleiche Theater, wenn ich mir die Haare schneiden lassen musste, mein ganzer Körper stand unter Hochspannung. In meinen Alpträumen sah ich mich sogar selbst mit Glatze, das will einiges heißen. Ich hasste mich vor allem dafür, dass ich überhaupt nicht protestiert hatte. Wie so oft hatte ich die Dinge für mich behalten, hatten sich die Worte in mir angestaut. Was hielt mich zurück? Höflichkeit? Schüchternheit? Wenn ich meine Rückenschmerzen loswerden wollte, musste ich die Sachen rauslassen. Also würde ich nach gut fünfzehn Jahren erneut in den Laden stiefeln und schön aus der Haut fahren. Da hatte ich doch schon die Lösung.
Auf meiner Liste stand auch, dass ich mich nicht traute, einen Film zu kritisieren, der allen gefallen hatte. War ich dazu zu feige? Wohl kaum. Ich war für das gesellschaftliche Leben nur schlecht gerüstet. Mein Rücken musste auch dafür den Preis zahlen. Ich wollte endlich hinausposaunen, wie schlecht all diese Filme waren. Würde es mir dann besser gehen, wenn ich alle wissen ließ, wie billig ich
Magnolia, Gomorrha – Reise in das Reich der Camorra
und
Melancholia
gefunden hatte? ** Wenn ich in einen hemmungslosen Taumel der Wahrheit verfallen würde, meinem Herzen Luft machte und so zahllose quälende Ansichten ausschied? Meine guten Manieren machten mich fertig, sie waren mein Untergang. Keine Kompromisse mehr, ruhig ein bisschen Wirbel veranstalten.Wie gut es mir getan hatte, meinen Eltern die Meinung zu sagen. Also, das glaubte ich zumindest. Sicher war ich mir nicht. Das Gefühl der Befreiung hatte nicht so wahnsinnig lange angehalten. War nur vorübergehend gewesen. War es dann nicht doch besser, sich zurückzunehmen? Soziale Täuschungsmanöver bewahrten einen eigentlich vor Unstimmigkeiten und Zerwürfnissen, und das passte ganz gut zu mir. Ich war konfliktscheu. Immer schön auf Ausgleich bedacht sein, lautete der Wahlspruch meiner Neurose. Das hieß, Wahrheit um jeden Preis war vielleicht der falsche Weg.
Meine Gedanken drehten sich im Kreis und schwankten zwischen unterschiedlichen Optionen hin und her. Womöglich war auch das die Wurzel des Übels: dieses ständige Ringen mit sich selbst. Diese moderne Unschlüssigkeit. Wir überlegten uns immer alles Mögliche und konnten uns doch nie entscheiden. Keine Epoche hat so viele psychosomatische Krankheiten ausgebrütet wie die unsere, da würde ich Gift drauf nehmen. Ich erinnerte mich an die Worte der Apothekerin: Rückenschmerzen sind gerade in Mode. Nicht einmal mein Elend hatte etwas Originelles. So sah sie aus, die heutige Zeit. Wir litten daran, dass wir nicht so recht wussten, was wir machen und was wir von all dem halten sollten. Wir hingen keinen großen Idealen mehr an. Politik war eine Kommunikationsdienstleistung von Börsenunternehmen, und am Himmel über Europa zeichnete sich nicht der geringste Krieg ab. Wofür also lohnte es sich noch zu kämpfen? Wir hatten jegliches Engagement verloren. Sartreoder Camus hatten bestimmt
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