Zum Glück Pauline - Roman
keine Ahnung hatte, wer das überhaupt war. Der Altersunterschied hatte mich abgeschreckt, dabei waren es doch nicht mal zehn Jahre. Es war ja nicht das erste Mal, dass sich ein junges Mädchen zu einem reiferen Mann hingezogen fühlte. Wie hatte ich nur so spießig sein können? Ich war blind durchs Leben gegangen, besessen von irgendwelchen Besprechungen mit irgendwelchen beschränkten Japanern, benebelt von der politischen Berichterstattung, den Wirtschaftsnachrichten und allerlei praktischen Informationen, doch damit war es nun vorbei. Ich besann mich allmählich auf die wichtigen Dinge des Lebens, und vielleicht führte diese Besinnung ja auch zu weniger Rückenschmerzen.
Ich schluckte zwei Tabletten, und dann noch mal zwei. Mein Tag war hinüber. Ich schaute fern. All die idiotischen Sendungen, die man gerne sieht, wenn man krank ist. Zeitweise nickte ich auch ein. Am Abend kam ein bekannter Kriegsfilm, den ich seit meiner Jugend nicht mehr gesehen hatte. Im Zimmer nebenan bumste ein Liebespaar miterstaunlicher Ausdauer. Ich stellte den Fernseher ein bisschen lauter, um die Geräusche zu übertönen. Die Wand war die Grenze zwischen Krieg und Liebe. Gegen Mitternacht schlief ich erneut ein. Als ich gegen zwei Uhr morgens wieder aufwachte, fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Ich wollte nicht bis morgen warten, um meiner Tochter das zu sagen, was mir jetzt schon am Herzen lag. Ich musste augenblicklich zur Tat schreiten.
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Intensität der Schmerzen: 5,5
Gemütslage: entschlossen
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Ich hatte mir die Adresse aufgeschrieben, als ich einmal versprochen hatte, sie besuchen zu kommen. Ich hatte auch öfter mal einen Blick darauf geworfen und war doch nie hingegangen. Den Türcode wusste ich sogar schon auswendig. Als ich so durch das nächtliche Paris spazierte, war ich ganz beschwingt, weil ich so unbeschwert meinen spontanen Eingebungen folgte. Ich hatte lange nicht mehr ohne Vorsatzgehandelt. Mein Dasein war stets von der Last der Gedanken geprägt gewesen. Alles musste immer erst in einen Terminkalender eingetragen,
in ein Zeitfenster eingepasst
werden. Ein fürchterlicher Ausdruck. Zeit ließ sich doch in kein Fenster einpassen. Zeit war eine relative Größe, konkret überhaupt nicht messbar. Wie schön, das so auszukosten … Die vernünftige und leicht durchschaubare Welt der Erwachsenen ging mir auf die Nerven. Als ich mich vor der Wohnungstür einfand, war es fast drei Uhr morgens. Bei allen Betrachtungen über die Schönheit nächtlicher Einfälle, zu denen ich mich aufschwang, hielt ich doch einen Augenblick inne. Schließlich wollte ich meine Versäumnisse wieder ausbügeln, aber war das der richtige Weg? Allzu impulsives Handeln erweist sich oft als kontraproduktiv. Egal, ich musste auf meine Instinkte hören. Ich klopfte. Anfangs ganz leise, als ob ich die beiden nicht wecken wollte (wie paradox). Nach einer Weile ging ich doch dazu über, etwas fester zu klopfen. Ich vernahm erst Schritte, dann eine besorgte Stimme. Die Stimme meiner Tochter:
«Wer ist da?»
«Ich bin’s. Papa.»
Alice öffnete die Tür, sie war in einen rosa Schlafrock gehüllt (so hatte ich sie noch nie gesehen). Nach einem Moment des Zögerns fragte sie:
«Äh … was machst du denn da? Ist irgendwas Schlimmes passiert?»
«Nein … nein, alles in Ordnung.»
«Was dann?»
«Also na ja … nichts. Darf ich reinkommen?»
«Ja …»
Ich trat ins Wohnzimmer. Es war nicht viel zu erkennen. Alles finster, irgendwie logisch.
«Papa, wenn irgendwas Schlimmes passiert ist, musst du es mir gleich sagen.»
«Nein, meine Liebe. Es ist bloß, weil ich die ganze Zeit versprochen hab, dass ich mal vorbeikommen werde, und nie gekommen bin. Na ja, jetzt bin ich da, das war so eine spontane Intuition.»
«…»
Sie wusste wohl nicht recht, was sie sagen sollte. Wahrscheinlich fragte sie sich, ob ich total verrückt geworden war oder nur eine kleine Krise durchmachte. In dem Augenblick kam Michel aus dem Schlafzimmer. In Unterhosen und mit wüstem Haar (die Verwüstung, die ein Weltkrieg angerichtet hatte) stand er am Ende des Flurs. Alice rannte zu ihm hin und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Ich verstand nicht alles, aber ich glaube, sie versuchte, die Situation zu entschärfen. Sie murmelte so etwas wie: «Meinem Vater … geht’s gerade nicht so gut … mit der Scheidung … und der Kündigung …», aber wie gesagt, ich bin mir nicht sicher, ob ich richtig gehört habe. Er schien kurz zu überlegen, dann kam er auf mich zu
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