Zum Glück Pauline - Roman
nie Rückenschmerzen gehabt, da war ich mir ziemlich sicher.
Als ich meine Liste erneut durchging, hielt ich bei dem Namen Sophie Castelot inne. Ich hatte seit vielen Jahren nicht mehr an sie gedacht, aber wenn es darum ging, die großen Enttäuschungen meines Lebens aufzuzählen, fiel sie mir sofort wieder ein. Ich hatte sie verdrängt, doch ihr unsterbliches Lächeln einer Achtjährigen spukte weiter in meinem Hinterkopf herum. Das nennt man dann wohl ein Trauma. Also ein richtiges Trauma. Die Geschichte mit Sophie Castelot war eine echte Katastrophe für mich gewesen. Allein die Erwähnung ihres Namens löste ein Erdbeben in mir aus. Ich war am Boden zerstört gewesen, als ich erfahren hatte, dass ich nicht zu ihrem Geburtstag eingeladen war. Anscheinend wollte sie lieber ohne mich feiern. Die Krönung war, dass sie dafür Rodolphe Boulmi eingeladen hatte. Die Wunden der dritten Klasse lagen immer noch offen. Vielleicht hatte schon damals alles angefangen. Ich musste zurückgehen bis zu dem Punkt, wo alles angefangen hatte. Was sie jetzt wohl machte? Bestimmt war sie verheiratet und hatte ein Kind. Nein, sie war bestimmt geschieden. Gewiss könnte ich sie ausfindig machen und fragen, warum sie mich nicht zu ihrem Geburtstag eingeladen hatte. Ich wollte eine Antwort haben. Schon damals hatte ich vor den Entscheidungen anderer einen solchen Respekt gehabt, dass ich gar nichts gesagt hatte. Ich hatte so getan, als würde mir das überhaupt nichts ausmachen, und mich zum Weinen auf mein Zimmer verkrochen.
Ich hatte Lust gehabt, diese Liste zu erstellen, weil ich den Prototypen meiner Enttäuschungen hatte bestimmen wollen. Alles wieder ins Lot zu bringen, war unmöglich, ich würde mich auf einen einzigen symbolischen Akt beschränken. Auf einen Akt, der die alten Wunden heilen sollte. Ich hatte ja schon alles versucht, sogar die Magnetfeldtherapie, insofern kam mir der Gedanke, einen symbolischen Akt zu vollziehen, auch nicht verrückter vor als andere. Wenn ich mir meine Liste so ansah, erschien mir Sophie Castelot am besten geeignet. Meine Intuition hatte mich zu ihr geführt. Im Rückblick musste man sagen, diese Geschichte war für mein Ego der erste wirklich harte Schlag gewesen. Vielleicht waren meine Rückenschmerzen die Spätfolge eines frühen Liebeskummers. Fest stand jedenfalls: Sie würde sich erklären müssen. Wieso hatte sie mich nicht zu ihrem Geburtstag eingeladen?
* Und es gibt keine Möglichkeit, dies nachzuholen. Die Heldin aus
Tisch und Bett
von François Truffaut starb am 1. Dezember 2008 an Krebs. Sie war 58 Jahre alt.
** Sieh da, ich merke gerade, dass die Filme, die ich nicht mag, meist auf A enden.
2
Intensität der Schmerzen: 3
Gemütslage: ein bisschen kämpferisch, ein bisschen nostalgisch
3
Manchmal sehnt man sich danach, Erkundigungen einzuholen so wie früher. Man möchte einen Detektiv beauftragen, sich wie Antoine Doinel in
Geraubte Küsse
fühlen können und was weiß ich noch alles. Doch das Traurige an unserer Zeit ist: Wir sind so leicht auffindbar. Verzweifelt erreichbar. Sophie Castelot war nur wenige Mausklicks von mir entfernt. Im Handumdrehen hatte ich ihr Profil ermittelt, und ich konnte ihr sogar eine Nachricht senden. Zu der Zeit, als ich dieses Mädchen gekannt hatte, verband man mit dem Wort «Computer» ein riesiges Rechenterminal, das eine Rakete steuerte, wo Astronauten drin saßen, die nach Außerirdischen Ausschau hielten. Und am Ende diente diese Technologie hauptsächlich dazu, Menschen miteinander in Kontakt zu bringen. Sie traten so unverzüglich und uneingeschränkt miteinander in Kontakt wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit. Man war den anderen so nah, aber meist nur virtuell. Das veränderte auch das Verhältnis zum Alleinsein. Man konnte sich leicht einreden, nicht allein zu sein, obwohl man es doch immer noch war und immer sein würde. Es dauerte nur ein bisschen länger, bis man es herausfand. Man gab sich gern der Illusion hin, mit anderen
wirklich
etwas zu teilen.
Ich hatte sie so schnell gefunden, dass mir gar keine Zeit geblieben war zu überlegen, was ich ihr denn schreiben wollte. Wie wendet man sich an jemanden, wenn seit der letzten Begegnung dreißig Jahre vergangen sind? Man neigt spontan zu etwas Augenzwinkerndem, als wäre die Zeit überhaupt nicht vergangen. «Geht’s dir gut?» Oder man schlägt einen halbwegs entspannten Ton an, der auch einer gewissen Eindringlichkeit nicht entbehrt: «Was ist aus dir
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