Zum Glück Pauline - Roman
geworden?» Es gibt auch die leicht verunsicherte Variante: «Ich weiß nicht, ob du dich noch an mich erinnern kannst …» Schließlich entschied ich mich für etwas einigermaßen Neutrales: «Ich hoffe, dir geht’s gut, nach all den Jahren …» Ich vermied jegliche Sentimentalität oder Gefühlsduselei, das ganze Unterfangen war schon pathetisch genug. Es roch nach depressivem Typ um die vierzig, der sich gerade scheiden lässt und versucht, seine ganzen alten Frauenbekanntschaften wieder aufleben zu lassen. Bei einem Kerl, der gedachte, eine Freundschaft aus der dritten Klasse wieder aufzuwärmen, konnte einem in der Tat unheimlich werden.
Offensichtlich empfand sie das nicht so, denn sie schrieb im Laufe des Tages freudig zurück. Sie gestand mir, dass auch sie schon in sozialen Netzwerken nach alten Freunden Ausschau gehalten hatte (ich durfte dem entnehmen, dass ich nicht zu den Objekten ihrer Recherchen gehört hatte). Sie hielt enthusiastisch fest, dass das
alles so lange her
war, und fand es
geil, dass man sich so leicht wiederfinden
konnte. Ich wunderte mich über ihren Tonfall. Das heißt, ich hatte den Eindruck, dass sie sich überhaupt nicht verändert hatte.enn ich ihre Nachrichten so las, kam es mir vor, als könnte ich dazu ihre Mädchenstimme hören. Dieser Eindruck hielt an bis zu dem Moment, in dem ich sie fragte, welchen Beruf sie ergriffen hatte: «Ich bin Sexologin.» Sophie Castelot, Sexologin. Sophie Castelot, das Mädchen, in das ich mit acht verliebt gewesen war und das mich nicht zu seinem Geburtstag eingeladen hatte, war nun also Sexologin. Ein paar Minuten saß ich fassungslos vor meinem Computer. Mein ganzer Plan erschien mir mit einem Mal lächerlich. Einer Frau, die sich auf dem unübersichtlichen Berufsfeld der Orgasmen austobte, etwas Intimes beichten zu wollen (dass sie mich nicht zu ihrem Geburtstag eingeladen hatte). Im Grunde war das wieder einmal bezeichnend für so viele Dinge in meinem Leben.
Wir verabredeten uns für den nächsten Tag zum Mittagessen. Mein letztes Rendezvous mit einer Frau war lange her. Und dann gleich eines mit einer, die ich so gut wie gar nicht kannte. Ich verbrachte eine geschlagene Stunde im Badezimmer (eine starke Leistung, wenn man bedenkt, wie eng es da ist), brachte meine Frisur in Ordnung, dann in Unordnung, um schließlich zu einer neuen Ordnung zu gelangen. Die meiste Angst flößte mir ihr Beruf ein. Ich hatte noch nie mit einer Sexologin zu tun gehabt. Es beeindruckte mich, was sie alles wissen musste. Mein Leben war in den biederen Bahnen der Monogamie verlaufen, ich war recht selten von klassischen Pfaden der Sexualität abgekommen. Es lagen bestimmt Welten zwischen uns. Plötzlich fiel mir ein, dass sie sich wahrscheinlich auch mit Rückenproblemen auskannte.Die Sexualität bestimmt alles, meinte Freud doch. Meine Beschwerden waren sicherlich durch eine starke sexuelle Komponente bedingt. Doch der Weg zu einer Prostituierten war der falsche gewesen. Was ich brauchte, war weniger ein erotisches Verhältnis als eine Analyse, die zutage förderte, unter welchen Blockaden ich litt. Meine Erkrankung war teils psychologischer, teils sexueller Natur. So war das Leben: Dieses Treffen ergab sich alles andere als zufällig. Ich hatte ein Kindheitstrauma bewältigen wollen, und mein Unterbewusstsein hatte mir befohlen, Kontakt zu meiner Retterin aufzunehmen. So oft begreift man die wahren Gründe seines Handelns erst
im Nachhinein.
Wir werden von dem berühmten sechsten Sinn geleitet. Auf den musste ich mich verlassen. Nach all dem, was ich bereits ausprobiert hatte, versprach ausgerechnet der Weg Heilung, den einzuschlagen ich mich am wenigsten befähigt fühlte: der Weg der Intuition.
Sophie Castelot hatte bei Facebook kein Foto von sich gepostet. Im Allgemeinen ist das ja eher ein schlechtes Zeichen. Würde ihr Gesicht noch das sein, das ich so geliebt hatte? Ich hatte bereits die Erfahrung gemacht, auf der Straße unvermutet Bekanntschaften von früher gegenüberzustehen. Jedes Mal die gleiche Katastrophe. Eine günstige Gelegenheit zu erkennen, dass nicht nur die anderen, sondern auch man selbst gealtert war. In den Gesichtern der anderen spiegelte sich das eigene wider. Was würde sich in Sophies Gesicht widerspiegeln? Ich wollte mir die erneute Erkenntnis, dass wir älter geworden waren, gern ersparen.Einen Moment lang überlegte ich, ob ich die Verabredung nicht besser absagen sollte. Viele Leute fürchten die Zukunft, doch mir erschien
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