Zum Glück Pauline - Roman

Titel: Zum Glück Pauline - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck

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erscheinen, erst recht vor den Zeugen der Vergangenheit. Zeigen, wie gut man sein Leben und das Schicksal gemeistert hat. Wer die Geister von einst ruft, muss, ob er will oder nicht, die Bilanz seines Lebens ziehen. Die plötzliche Intimität unseres Austauschs versetzte uns in eine aufrichtigere Stimmung als der oberflächliche Plausch, mit dem ich eigentlich gerechnet hatte. Wir entdeckten allerhand Gemeinsamkeiten aneinander, und muss man es noch eigens erwähnen: Die Leben, die wir beide führten, waren einander wahnsinnig ähnlich.
    Ich zog Vergleiche zwischen ihrem jetzigen Gesicht und ihrem Kindergesicht. Es war irgendwie dunkler geworden, was nicht mit der Haarfarbe zusammenhing. Auch prägnanter, als hätte sie so eine Art spanische Ader entwickelt. Ihr Äußeres war auf Reisen gegangen. So weit meine Gedanken, als sie bemerkte:
    «Du hast dich überhaupt nicht verändert.»
    «Findest du?»
    «Na ja, doch. Du bist älter geworden. Aber du siehst immer noch irgendwie gleich aus.»
    «Wie sehe ich aus?»
    «Das ist eine komische Mischung. Man kann nie genau sagen, ob du traurig oder glücklich bist.»
    «…»
    Zum ersten Mal sprach jemand das aus, was ich immer gefühlt hatte. Und wir waren einander auf rätselhafte Weise verbunden. Sie schien meine Gedanken lesen zu können. Ich stellte Überlegungen zu ihrem Gesicht an, und sie fing an, von meinem zu sprechen. Ich dachte daran, dass sie mich nicht zu ihrem Geburtstag eingeladen hatte, und sie lud mich ein. Sie lag intuitiv immer richtig. Was mich gar nicht wunderte. Gegenseitiges Verständnis fängt eben mit einem Bauchgefühl an.
    «Ich glaube, du bist sehr feinfühlig. Das hängt bestimmt mit deinem Beruf zusammen.»
    «Kann sein. Ich ordne die Leute verschiedenen Charaktertypen zu, wenn sie mir von ihren Problemen erzählen. Und umgekehrt.»
    «Umgekehrt?»
    «Ich meine … wenn ich mich mit jemandem unterhalte, weiß ich nach fünf Minuten, was für ein Verhältnis er zur Sexualität hat.»
    «Wirklich?»
    «Ja.»
    «Und bei mir … weißt du es auch?»
    «Na klar. Ich kann mir prima vorstellen, was für einen Patienten du abgeben würdest.»
    «Ich bin ganz Ohr …»
    «Aha … ich sehe schon … das interessiert dich … navielleicht ein andermal. Ich bin nämlich spät dran. Ich muss wieder zu meinen Patienten.»
    «…»
    «Ich hab einen, der seit 1989 keine Erektion mehr gehabt hat.»
    «Das muss hart sein …»
    Sie lachte, obwohl ich gar nicht versucht hatte, lustig zu sein. Dann stand sie rasch auf, ungefähr so rasch, wie sie hereingekommen war. Die Handlungen mancher Leute erfolgen vollkommen übergangslos. Wenigstens war sie nicht mitten im Satz aufgesprungen. Sie küsste mich wieder auf die Wange und sagte:
    «Hat mich gefreut, dass wir uns wiedergesehen haben. Echt.»
    «Ja, mich hat’s auch gefreut …»
    Ich blieb noch einen Moment allein am Tisch sitzen. Als die anderen Gäste auch allmählich aufstanden und gingen, machte ich mich ebenfalls auf den Weg.

       * Oder kam ich zehn Minuten zu früh?

4
    Intensität der Schmerzen: 2

Gemütslage: ein bisschen ängstlich, ein bisschen glücklich

5
    Im Flugzeug dachte ich an Sophie Castelot. Ich erzählte Alice von dieser Begegnung, die fand, dass das eine
hammermäßige Geschichte
war. Dann begann sie zu überlegen, welche Kleinigkeiten sie erlebt hatte, die ihr wehgetan hatten. Ich bereute es, dass ich meine Liste erwähnt hatte, denn auf ihrer Liste tauchte auch mein Verhalten gegenüber ihrem Freund auf. Ich schlug vor, einen Film anzuschauen. Die Auswahl war riesig. Noch vor wenigen Jahren konnte man sich im Flugzeug gerade mal einen einzigen Film anschauen. Und wenn man Pech hatte und den falschen Sitz erwischte, hatte man überhaupt keinen Empfang. Ich erinnere mich, bei
Die Brücken am Fluss
schwebte der Bildschirm genau über meinem Kopf. * Alice und ich guckten uns Ausschnitte verschiedener Filme an und teilten uns die Ohrstöpsel: Jeder einen Stöpsel. Es war lange her, dass wir das letzte Mal so nebeneinander gesessen hatten, weit weg von zu Hause, außerhalb der üblichen Umgebung. Wir flogen über den Atlantik, ein tolles Gefühl.
    Bei unserer Ankunft in New York schickte Alice Paul eine SMS und fragte, wie es ihm gehe und was er gerade so mache. Er schrieb zurück, es gehe ihm gut und er werde den ganzen Nachmittag in der Bibliothek sitzen und arbeiten. Wir stiegen in ein gelbes Taxi und ließen uns direkt zur Columbia University bringen. Berauscht fuhren wir durch New