Zum Glück Pauline - Roman
keine Rolle. Pauls Mitbewohner Hector kam nach Hause. Er schien sich nicht weiter an uns zu stören, auch nicht an der Vorstellung, dass wir ein paar Tage bleiben würden. Als Informatik-Genie dachte er in anderen Dimensionen und war gegen die Sorgen des Alltags immun. Sein mathematisches Talent verhielt sich lediglich umgekehrt proportional zu seiner sonstigen geistigen Entwicklung. Laut den Aussagen meines Sohns redete er von nichts anderem als von Brüchen und Algorithmen. Doch auf einmal geschah etwas Merkwürdiges mit ihm. Es wirkte fast so, als würde er körperliche Anstrengungen unternehmen, um sich als umgänglicher Kerl zu erweisen. Er lächelte steif und ließ ein paar banale Bemerkungen über New York fallen. Es dauerte einige Zeit, bis wir begriffen, dass hinter dieser unerwarteten Komplettmutation nur Alice stecken konnte. Während er redete, warf er immer wieder kurze lebhafte Blicke in ihre Richtung, die er mit einem verkrampften Lächeln würzte. Der Stress entlockte ihm schließlich sogar den ein oder anderen Schweißtropfen, ein Detail,das ihn mir sofort sympathisch machte. Im Gefühl, eine Art Weltraummission (eine gesellschaftliche Situation mit einer tollen Frau) erfüllt zu haben, kehrte er auf sein Zimmer und in die bequeme Welt der Zahlen zurück.
Am Abend waren Alice und ich überhaupt nicht müde. In Frankreich war es schon tief in der Nacht, man musste ja auch die Zeitverschiebung berücksichtigen, und normalerweise ging ich gern früh ins Bett. Wir hatten uns so weit von zu Hause entfernt, dass uns selbst die eigenen Körperfunktionen allmählich fremd wurden. Paul schlug vor, in einem kleinen pakistanischen Restaurant in der Nähe essen zu gehen. Eine hervorragende Idee, wie wir alle fanden. Kaum hatten wir uns an den Tisch gesetzt, stieg mir ein eigenartiger Duft in die Nase, es roch irgendwie nach vergammeltem Fleisch. In der Nacht hatte ich dann prompt Bauchschmerzen, aber die konnten auch von dem scharfen Essen kommen; jedes Gericht, das wir bestellten, löste in meinem Mund Feueralarm aus. Nachdem ich dies losgeworden bin, bin ich gern bereit einzuräumen, dass der Feueralarm gut zu den tropischen Temperaturen passte, die in dem Lokal herrschten. Der Wirt entschuldigte sich, die Klimaanlage sei kaputt und der Zusatzventilator kürzlich gestohlen worden. Aufgrund der Krise könne er sich derzeit keinen neuen leisten. Natürlich verstand ich die meiste Zeit nur Bahnhof, doch mein Sohn dolmetschte alles. Am Nebentisch hockte ein Pärchen, das einen heftigen Streit hatte, was unsere Unterhaltung erheblich erschwerte. Die beiden schienen ein ernsthaftes Problem zu haben, vielleicht hätte SophieCastelot das regeln können. Sie beschimpften sich wirklich aufs Übelste, aber ich konnte ihre Gesichter nicht erkennen, weil ich eine Kristallkugel im Blickfeld hatte, die mit allerlei Lichteffekten um sich warf. Es war fast ein bisschen so wie in der Disko, mir leuchtete nur nicht ein, wie man so ein Ding in einem Restaurant anbringen konnte; gelbe und orange Lichter, die auch die gelben Wände erleuchteten, an denen einige schauderhaft hässliche Bilder hingen, umspielten unsere Züge. Die Inneneinrichtung war wahrlich der reine Kitsch, eine Sternstunde des Kitsch, es gab Bilder von Kühen und Hühnerställen, von Schnauzbärten und von Mädchen mit nur einer Brust. Der Künstler, also der Mensch, der das gemalt hatte, war bestimmt ein Cousin des Wirts, so ein typischer Kunst liebender Taugenichts, wie es ihn in jeder Familie beziehungsweise in jedem Familienclan gibt. Der pakistanische Maler von Brooklyn. Nach einer Weile fing ich an, das Schöne im Hässlichen zu entdecken. Doch dann musste ich mich wieder auf meinen Rücken konzentrieren, denn es machte sich ein diffuser Schmerz bemerkbar. Das lag wahrscheinlich an diesem sagenhaften Stuhl, auf dem ich saß, der nicht einmal eine gerade Sitzfläche hatte und für zwei ganze Gesäßhälften zu klein war. Ich kam mir vor, als würde ich im Sitzen Ski fahren … furchtbar. Na ja, aber eigentlich wollte ich nur erzählen, dass ich mit meinen Kindern in New York essen war. Eigentlich wollte ich nur sagen, dass ich einen der schönsten Abende meines Lebens verbracht habe.
* Die reife schauspielerische Leistung des Kinns von Meryl Streep wird mir immer unvergesslich bleiben.
6
Intensität der Schmerzen: 4
Gemütslage: magisch
7
Es war eine dieser wunderlichen Nächte, wo man gar nicht mehr weiß, ob man gerade wach ist oder
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