Zum Glück verführt: Roman (German Edition)
selbstzerstörerisch veranlagt bist, wusste ich bislang nicht.«
Er erhob sich schwankend aus dem Sessel und musste sich dabei an der Schreibtischplatte festhalten. »Selbstzerstörerisch?«
»Ja. Das bist du. Du meinst wohl, du bist voll auf Pechsträhne programmiert. Dass du vom Schicksal ungerecht behandelt wirst, hmmm? Aber weißt du was, Lyon Ratliff, du hast überhaupt keine Ahnung! Ich habe einmal einen schwerstbehinderten Mann interviewt, der weder Hände noch Füße hatte. Und weißt du, was er macht? Er ist Marathonläufer.
Ich habe mit einer Frau gesprochen, die an Polio erkrankte und seither vom Halswirbel an gelähmt ist. Sie ist dermaßen gehandikapt, dass sie an eine eiserne
Lunge angeschlossen ist, die das Atmen für sie übernimmt. Sie lächelte während des gesamten Interviews, denn sie war stolz auf ihre Gemälde. Bilder. Ja, du hast richtig gehört! Sie malt mit dem Pinsel zwischen den Zähnen.«
»Moment mal! Von wem stammt denn die grandiose Idee, dass du mir ins Gewissen redest?«
»Von mir selbst!«
»Okay, das kannst du vergessen. Ich hab nie behauptet, dass es anderen besser geht als mir.« Er ließ sich wieder in den Sessel fallen.
»Das nicht, aber du spielst die Rolle des schwer gebeutelten Märtyrers, weil deine Frau dich verlassen hat. Nur ihretwegen hast du einen Mordshass auf Gott und die Welt.« Sie stützte die Arme auf den Schreibtisch und beugte sich zu ihm vor. »Lyon, dass du um deinen Vater trauerst, ist verständlich«, meinte sie sanft. »Aber du darfst dich nicht hier einschließen und deine Wunden lecken. Dafür bist du ein zu wertvoller Mensch.«
»Wertvoll?«, wiederholte er mit einem verbitterten Auflachen. »Das sah Jerri aber ganz anders. Sie hat mich nach Strich und Faden betrogen.«
»Meinst du, Robert wäre auch nur einen Hauch besser gewesen?«
Sein Kopf schnellte hoch, blutunterlaufene Augen musterten sie eine lange Weile. Dann warf er die Hände vors Gesicht und rieb sich fahrig die dunklen Bartstoppeln. Schließlich griff er nach der Whiskeyflasche.
Andy atmete hörbar erleichtert auf, als er die Flasche lediglich zuschraubte und in ein Schubfach des Schreibtischs stellte.
Jungenhaft ertappt grinste er. »Was hast du denn Leckeres für mich?«
Die Anspannung wich von ihr. Ihre Schultern entkrampften sich, und sie schob das Tablett näher zu ihm hin. Er lachte. »Und wer soll das alles essen?«
»Gracie meinte, du hättest seit Tagen nichts mehr gegessen und sicher einen Mordshunger.«
»Isst du etwas mit?«
»Es ist nur ein Teller da.«
»Kein Problem, wir benutzen ihn gemeinsam.«
Als Andy mit dem leeren Tablett zurückkehrte, sprang Gracie hektisch auf und hätte dabei fast ihre Kaffeetasse vom Küchentisch gefegt.
»Was ist mit ihm?«, fragte die Haushälterin besorgt.
»Er ist satt«, gab Andy kichernd zurück. »Ich hab einen Happen mitgegessen, den Rest hat er verputzt. Er möchte etwas trinken. Aber keinen Kaffee. Ich glaube, er wird nachher gut schlafen.«
»Ich mache Ihnen eine Kanne Eistee fertig.«
»Ja, gute Idee. Gracie …« Sie stockte, bevor sie ihre Bitte formulierte. »Könnten Sie mir einen kleinen Gefallen tun?«
»Aber selbstverständlich, nach allem, was Sie für Lyon getan haben.«
»Rufen Sie im Haven in the Hills an und hinterlassen Sie beim Portier eine Nachricht für Mr. Trapper. Ich möchte nicht, dass Sie persönlich mit ihm sprechen, zumal er wütend sein wird. Seine Verbalinjurien will ich Ihnen ersparen. Lassen Sie ihm lediglich ausrichten, dass er das, worauf er händeringend wartet, morgen bekommt.«
»Er bekommt morgen, worauf er händeringend wartet. Hab ich Sie richtig verstanden?«
»Ja.« Sie hatte für sich entschieden, Lyon von dem Revers zunächst nichts zu erzählen. Er hatte eingelenkt, und sie waren sich ein wenig näher gekommen. Und in dieser Stimmung mochte sie nicht riskieren, das zarte Pflänzchen Vertrauen zu zerstören, das allmählich zwischen ihnen spross. »Ich halte es für das Beste, wenn Sie den Pförtner unten am Tor informieren, dass er heute niemanden mehr durchlassen soll.«
»Mach ich«, bekräftigte Gracie.
»Ich denke, das ist alles. Hoffen wir, dass Lyon nachher gut schlafen kann.«
»Danke, Andy. Ich wusste doch gleich, dass Sie genau die Richtige für ihn sind.«
Andy nickte kurz, sagte aber nichts. Schweigend trug sie das Tablett mit dem Teekrug und zwei hohen Gläsern in sein Arbeitszimmer. Lyon saß nicht mehr hinter seinem Schreibtisch, sondern lag lang
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