Zum Glück verführt: Roman (German Edition)
angestellt hätte. Er sitzt in seinem Büro, und ich bin sicher, dass er sich betrinkt. Er war die ganze Zeit über so gefasst. Dann plötzlich, als alle fort waren, rastete er förmlich aus. Er isst nicht mehr und warf mir quasi das Tablett hinterher, als ich ihm sein Essen hochbrachte. Wenn er nicht schon erwachsen wäre, würde ich ihm eine ordentliche Tracht Prügel verabreichen, das können Sie mir glauben. Gehen Sie zu ihm, und reden mit ihm, ja?«
Andy spähte skeptisch zu der Tür, hinter der Lyons Arbeitszimmer lag. »Ich weiß nicht, ob das so glücklich ist, Gracie. Mich will er bestimmt am allerwenigsten sehen.«
»Wenn Sie sich da mal nicht täuschen. Ich glaube eher, er benimmt sich so merkwürdig, weil Sie abgereist sind.«
Andy musterte die Haushälterin schockiert. »Er hat gerade seinen Vater verloren.«
»Allerdings, aber damit war jeden Tag zu rechnen. Er trauert um seinen Vater, keine Frage. Es ist aber doch nicht normal für einen Mann, sich dann so zu verhalten, oder? Er leidet an Herzschmerz, und das
gewiss nicht nur, weil der General gestorben ist.« Ihre Unterlippe bebte verräterisch, und Andy nahm Gracie tröstend in die Arme.
»Mein tief empfundenes Beileid, Gracie. Sie haben General Ratliff sicher sehr geschätzt, nicht wahr?«
»O ja. Und er fehlt mir. Aber ich bin froh, dass er nicht mehr leiden muss. Bitte gehen Sie doch rein und schauen nach Lyon. Um ihn mache ich mir jetzt allergrößte Sorgen.«
Andy legte ihre Tasche und das unsägliche Formular auf die Anrichte in der Diele. »Sie meinen, er betrinkt sich? Seit wann hat er denn nicht mehr gegessen?«
»Seit zwei Tagen oder so … keine Ahnung. Jedenfalls rührt er keinen Bissen mehr an.«
»Okay, eins nach dem anderen. Bringen Sie mir das Tablett, das Sie für ihn vorbereitet hatten.«
Innerhalb von Minuten kehrte Gracie mit einem Tablett zurück, auf dem kalte Brathuhnstreifen, Kartoffelsalat, Sülze und gebutterte Weißbrotscheiben angerichtet waren. Andy nahm es ihr ab und trug es in Richtung Bürotür. »Machen Sie mir bitte auf, ja?« Gracie gehorchte und trat hastig ein paar Schritte zurück, als fürchtete sie, jeden Moment von einem Ungeheuer angefallen zu werden.
Andy betrat den dämmrigen Raum, woraufhin Gracie geräuschlos die Tür hinter ihr schloss. Die Vorhänge vor den breiten Panoramafenstern waren zugezogen und ließen nicht den kleinsten Streifen
Sonnenlicht hinein. Die ledergepolsterten Sessel, der schwere Eichensekretär und die wandhohen, dicht gefüllten Bücherregale trugen nicht unmaßgeblich zu der bedrückenden Atmosphäre bei. Ein leichter Whiskeydunst hing im Zimmer. Lyon, der vornübergebeugt am Schreibtisch hing, hatte das Gesicht in seinem angewinkelten Arm vergraben, die geöffnete Schnapsflasche neben sich.
Mit energischen Schritten durchschritt sie den Raum. Als ihre Absätze den weichen Orientteppich überquert hatten und auf dem Parkett klackerten, fuhr er zusammen und hob den Kopf.
Keine Frage, er stand vor einem mittleren Wutausbruch. Er klappte den Mund auf und verblüfft wieder zu. Starrte sie fassungslos, mit glasigen Augen an. »Was willst du denn noch hier?«
Ihr erster Impuls war, das Tablett fallen zu lassen und zu ihm zu stürzen. Ihm von ganzem Herzen ihr tiefes Beileid zu bekunden. Aber ihr war klar, dass er es ablehnen würde, da ihm Sentimentalität in jeder Form zuwider war. Also würde sie ihm mit dem nötigen Selbstbewusstsein und auf Augenhöhe begegnen müssen. »Das sieht doch wohl ein Blinder. Ich bring dir was zu essen.«
»Ich will nichts. Und dich will ich schon gar nicht sehen. Also verschwinde. Da ist die Tür.«
»Terrorisier meinetwegen deine Haushälterin, aber bei mir zieht die Masche nicht. Ich lass mich von dir nicht schikanieren. Benimm dich gefälligst
wie ein zivilisierter Mensch und iss endlich etwas. Gracie ist halb krank vor Sorge um dich. Mir persönlich ist es herzlich egal, ob du verhungerst oder dich zu Tode säufst, aber ihr nicht. Und dass du es weißt: Gracie bedeutet mir eine ganze Menge. Wo soll ich dir das Tablett hinstellen?« Ohne seine Antwort abzuwarten, knallte sie es ihm vor die Nase.
»Heute Morgen, bei der Beerdigung, hab ich dich und diese anderen Schmarotzer vermisst. Verschlafen?«
»Okay, nur zu, beleidige mich ruhig, wenn du dich dann besser fühlst, Lyon Ratliff. Darin bist du echt spitze, das muss man dir neidlos zugestehen. Du bist ein arroganter, bornierter Chauvi. Aber dass du dazu auch noch
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