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Zum Tee in Kaschmir

Titel: Zum Tee in Kaschmir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nazneen Sheikh
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kulinarischen Tradition. Die Tatsache, dass einem Gericht auf diese Weise ein geradezu überirdischer Status verliehen wurde, steigerte den Genuss noch erheblich. Für meine Familie stand die Kochkunst gleichberechtigt neben den bildenden Künsten, der Literatur und der Musik. Die Zubereitung einer Mahlzeit war ein kreativer Prozess, dem man sich mit großer Aufmerksamkeit widmen musste. Der Genuss einer Speise war sowohl erhaben als auch vergänglich, es galt daher, ihn angemessen zu zelebrieren.
    Als meine Eltern den Fisch mit Grünkohl aßen, war dies, als würden sie einer wunderbaren Arie von Verdi lauschen. Meinem Vater standen sogar Tränen in den Augen. Auf die überschwänglichen Komplimente, mit denen er meine Tante überschüttete, reagierte Dil-Shad, »die Löwin«, jedoch nur mit einem verächtlichen Schnauben, so als hätte sie meinem Vater ein Spiegelei serviert und er hätte es fälschlicherweise für Kaviar gehalten. In diesem Moment wurde mir klar, dass meine Tante trotz ihrer nach außen demonstrierten Schroffheit im Inneren ein äußerst bescheidener Mensch war.

    Grünkohl spielt in der kaschmirischen Küche eine ebenso wichtige Rolle, wie die Kartoffel bei den Iren. Er wird geschmort oder gedünstet zu Fisch, Fleisch und Geflügel gereicht. Diese Kohlsorte, die keine Köpfe, sondern eine Rosette aus großen, dunkelgrünen faserigen Blättern ausbildet, wurde schon vor zweitausend Jahren von den Griechen und Römern angebaut. Grünkohl enthält viele wichtige Nährstoffe und versorgt den Körper mit Kalzium, Kalium und mit wichtigen Antioxidantien.
    Will man Fisch mit Grünkohl zubereiten, so eignet sich dazu grundsätzlich jeder Fisch, der ein festes, weißes Fleisch besitzt. Dazu gehören unter anderem Kabeljau, Seebarsch, Seeteufel und sogar Hai. In Lahore, das am linksseitigen Ufer des Ravi liegt, verwendet man dafür Rao und Mahasher, die in diesem Fluss gefangen werden. Der Name Lahore leitet sich von Loh, dem Sohn Ramas ab, welcher der Held des Hindu-Epos Ramajana ist. Lahore wurde von mehreren Dynastien von Sikhs und Hindus beherrscht, bevor es von 1524 bis 1752 Teil des Mogulreiches war. Sowohl die Mongolen wie auch die Türken wurden von der fruchtbaren Ebene angezogen, wo schon damals Getreide, Gemüse und Obst üppig gediehen.
    Die Moguln befestigten die Stadt während ihrer Herrschaft mit einer neun Meter hohen Ziegelmauer. In diesem Festungswall mit seiner ringförmig darum verlaufenden Straße gab es insgesamt zwölf Tore, die nachts geschlossen wurden. Durch die Tore erhielt man Zugang zu bestimmen Stadtbezirken. Noch heute ist einer der Bezirke Lahores nach den Moguln Mughalpura benannt. Der Mogulherrscher Akbar ließ dann später eine große Festung erbauen, die unter den Herrschern Schah Dschahan und Aurangseb noch erweitert wurde. Die Badschahi Moschee, der Schalimargarten und die Gräber des Kaisers Dschahangir und der Kaiserin Nur Dschahan halten die Gegenwart der Moguln in dieser Stadt auch heute noch lebendig.
    Zwei Stadtviertel von Lahore waren schon zur Zeit der Moguln für die Gerichte berühmt, die man dort auf der Straße kaufen konnte, und sie sind es auch noch heute. In Gawalmandi wurden der Rao und der Mahasher schon vor Jahrhunderten in einem stark gewürzten Teig ausgebacken und mit großen Brotfladen serviert. Es gab gegrilltes Fleisch und Geflügel aus dem Lehmofen, und neben großen Fässern mit frischem Joghurt standen dampfende Kessel mit einer für den Pandschab typischen Nachspeise, die rabrdi genannt wurde.
    In Shahi Mohalla, was »das königliche Gebiet« bedeutet, gab es einen Bezirk, der Hera Mandi oder »Diamantenmarkt« hieß. Die Diamanten waren in diesem Fall die berühmten Kurtisanen von Lahore, die duftende Gewürze auf Betelblättern servierten, Gedichte rezitierten, kathak , den höfischen Tanz der Moguln, tanzten und sich gewisse Männer als Gönner suchten.
    Ein bestimmtes Gericht, nämlich Beinscheiben vom Rind, war dabei mindestens genauso bekannt wie die Kurtisanen von Hera Mandi. Viele Bewohner von Lahore kommen auch heute noch nur wegen dieses Gerichts in diesen Stadtteil. Beinscheiben vom Rind oder paya werden zusammen mit speziellen Gewürzen so lange gekocht, bis daraus ein herzhafter, gallertartiger Eintopf wird. Wenn man dann das Fleisch, das Knochenmark und die gallertartige

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