Zum Tee in Kaschmir
Dil-Shad gewesen war, die sich mehrere Wochen lang rührend um mich gekümmert hatte, als meine Mutter nach meiner Geburt schwer erkrankt war. Jedes Mal, wenn ich sie sah, fühlte ich mich daher verpflichtet, ihr zu beweisen, dass ich diese Mühe wert war. Damals wusste ich noch nicht, wie sehr sich Shaad nach einer eigenen Tochter sehnte. Diese Sehnsucht war so groÃ, dass Amir, ihr jüngerer Bruder, später eine seiner Töchter für ein paar Jahre in ihre Obhut gab.
Im Gegensatz zu den anderen Mitgliedern meiner Familie pflegte Tante Shaad alle Rezepte mit genauen MaÃangaben sorgsam in linierten Schulheften zu notieren. Ihre Geschwister betrachteten dies als Sakrileg. Immerhin waren sie alle Kinder von Dil-Aram, von der sie die ebenso geheimnisvolle wie berühmte Gabe geerbt hatten, aus dem Gedächtnis zu kochen. Natürlich hatte niemand den Mut, Shaad gegenüber ihre handschriftlichen Aufzeichnungen auch nur in Frage zu stellen. Ich war mir im Ãbrigen auch sicher, dass sie in der Lage war, ohne fremde Hilfe und ohne Aufzeichnungen ein Menü für hundert Gäste zuzubereiten.
Tante Shaad lebte in der Innenstadt von Lahore in einem bescheidenen Ziegelbungalow. Wenn man das Haus betrat, fiel einem als Erstes auf, wie sauber alles war. Nirgendwo lag ein Stäubchen, jede Oberfläche und jeder Gegenstand waren blitzblank. Nachdem sie mich heftig umarmt hatte, erkundigte sie sich sofort nach meinen Schulnoten. Der Rest meiner Familie steuerte währenddessen bereits zielgerichtet auf die auf dem groÃen Tisch bereitgestellten Delikatessen zu, die es als Appetithappen vor dem Essen gab. Also nahm ich angesichts des rasch schwindenden Guavensalats zu einer Notlüge Zuflucht.
Meine Mutter warf mir ein nachsichtiges Lächeln zu und rettete den letzen Rest des Salats vor meinen hungrigen Geschwistern. Dil-Shad, »die Löwin«, kniff die Augen zusammen und ging dann mit mir gemeinsam zum Esstisch, wo ich neben ihr Platz nehmen musste. Meine Stimmung sank nun endgültig in den Keller, denn ich wusste, dass während des Essens unweigerlich weitere Fragen kommen würden und dass ich auÃerdem noch peinlich genau darauf achten musste, mich nicht versehentlich mit den Ellbogen auf den Tisch zu stützen.
Als kurz darauf eine groÃe Platte mit weiÃen Fischfilets, die auf einem Bett von Grünkohl lagen, auf den Tisch gestellt wurde, begannen meine Eltern verzückt zu lächeln. Das ganze Ensemble war mit einer feuerroten SoÃe übergossen, die einen perfekten Kontrast zum Grün des Kohls bildete. Meine Tante gab mir etwas von dem Gericht auf meinen Teller und ermahnte mich dabei, dass ich wegen der Gräten aufpassen solle, denn es sei unmöglich, den Fisch vollständig zu entgräten, ohne dass dabei das zarte Fleisch in Mitleidenschaft gezogen würde. Ein ehrfurchtsvolles Schweigen breitete sich rings um den Esstisch aus, während sich alle ihren Tellern zuwandten. Als ich den ersten Bissen probiert hatte, konnte ich die wunderbare Kombination von Aromen auf meiner Zunge zwar nicht identifizieren, aber eines wusste ich mit absoluter Sicherheit: Dieses Gericht war einfach köstlich. Jetzt verstand ich die Begeisterung meiner Eltern.
Als das Rezept viele Jahre später in meinen Besitz gelangte, wurde mir klar, dass der Fisch bei diesem Gericht zwar weitgehend das Aroma des Grünkohls und der Gewürze aufgenommen, aber dennoch auch eine Spur seines angenehm süÃen Geschmacks behalten hatte. Im sautierten Grünkohl befand sich schwarzer Kardamom, den man normalerweise vor dem Servieren aus einer Speise entfernte. Abgesehen davon, dass ich keine Gräte übersehen durfte, musste ich beim Essen also auch noch darauf achten, nicht auf ein Stück schwarzen Kardamom zu beiÃen, der beiÃend scharf schmeckte. Dieses beliebte kaschmirische Gericht, ein wahrer gastronomischer Triumph, in dem sich auch eine Spur von Gefahr verbirgt, wurde für mich zu einer perfekten Metapher für die Persönlichkeit meiner Tante.
Bei jenem Besuch im Hause meiner Tante Shaad erfuhr ich auch, warum sich meine Eltern so auf dieses ganz besondere kaschmirische Gericht gefreut hatten. In Karatschi, wo wir jetzt lebten, gab es weder frischen Fisch zu kaufen, noch wurde in dieser Region Grünkohl angebaut. Und dennoch: Die Lobgesänge, die in meiner Familie auf dieses Gericht angestimmt wurden, gehörten bei uns sozusagen zur
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