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Zum Tee in Kaschmir

Titel: Zum Tee in Kaschmir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nazneen Sheikh
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Tante in ihrer weitverzweigten Familie eine solche Ehrfurcht hervor, dass sie schon an Furcht grenzte.
    Meine Mutter vergötterte ihre jüngere Schwester und brachte oft ihre Bewunderung für Shaad zum Ausdruck, die die Kraft besaß, Ehe, Kinder und einen anstrengenden Beruf miteinander zu vereinen. Als ihr Ehemann in die kleine Stadt Rawalakot im pakistanischen Teil von Kaschmir versetzt wurde, hatte sie ihre drei Söhne sogar eine Zeitlang zu Hause unterrichtet. In dieser Stadt hatte sie auf die Bitte des Präsidenten hin auch eine Mädchenschule gegründet.
    Meine Mutter und Tante Shaad verband jedoch nicht nur schwesterliche Liebe sondern auch eine intellektuelle Nähe. Meine Mutter erzählte mir oft, dass Shaads Küche ein Tempel der Reinlichkeit und Ordnung sei. An ihrem Tisch herrschten stets Schlichtheit und Strenge. Nie gab es Blumen oder dekorative Tischdecken, denn eine ausgezeichnete Küche sprach für sich selbst und hatte schmückendes Beiwerk nicht nötig - es war nichts anderes erforderlich, als ein guter Appetit. Im Gegensatz zu meiner Mutter verwendete meine Tante Küchengeräte, die zwar keine Zeit einsparen halfen, aber für ihren Zweck mehr als ausreichend waren. Einen guten Kochtopf, ein scharfes Messer und einen Herd, mehr brauchte sie nicht, um ein Gericht zuzubereiten, ganz egal, um welches es sich dabei handelte und wo auch immer sie es zubereitete. Ihre Art zu kochen hatte etwas Ganzheitliches. Öl und die berüchtigte, cholesterinreiche Ghee verwendete sie nur sehr sparsam. Jedes Gericht, auf dem eine Fettschicht schwamm, ließ sie sofort wieder in die Küche zurückgehen, damit man das Öl abschöpfte.
    Hinter Tante Shaads harter Schale verbarg sich ein weicher Kern. Nach all dem, was man sich in unserer Familie erzählt, strebte Dil-Shad danach, mit ihrer Mutter Dil-Aram in Konkurrenz zu treten. Der sich daraus ergebende Kampf der Giganten veranlasste meine Großmutter schließlich oft dazu, ihre Tochter dadurch zufrieden zu stellen, dass sie nachgab. Einer dieser Konflikte, von dem ich nur vom Hörensagen erfahren hatte und bei dem es um ein bestimmtes Rezept ging, war meiner festen Überzeugung nach nichts anderes als ein Streit um des Kaisers Bart.
    Lammkutteln, so wie sie in Kaschmir zubereitet werden, werden durch verschiedene Zutaten verfeinert. Meine Großmutter gab ihnen zwei grüne Kräuter, nämlich Bockshornklee und Dill hinzu, Dil-Shad hingegen war der Ansicht, dass unbedingt auch Spinat dazugehörte. Ich aß dieses Gericht zum ersten Mal als junges Mädchen im Hause meiner Tante. Ich lud mir eine großzügige Portion auf den Teller und fand den ersten Bissen durchaus faszinierend. Im Gegensatz zu einem Stück Lamm- oder Hühnerfleisch, das eine einheitlich feste Konsistenz hat, sind Kutteln auf der einen Seite glatt und gummiartig, während die andere mit elastischen Fasern, die einer weichen Bürste ähneln, bedeckt ist. Nachdem ich gefragt hatte, von welchem Teil des Tieres dieses Fleisch stammte, sah ich das Ganze bildlich vor mir und brachte daraufhin keinen Bissen mehr hinunter. Ich war mir sicher, dass das meiner Tante überhaupt nicht gefallen würde, also versuchte ich, die Kutteln unter einem Berg von Reis auf meinem Teller zu verstecken und aß stattdessen alles andere. Allerdings fragte ich mich immer wieder, was ich tun sollte, wenn ich zu der Stelle vorgedrungen wäre, unter der sich die Kutteln befanden. Würden sie Tante Shaads Adlerblick entgehen?
    Das, was ein paar Minuten später passierte, ließ meine Hochachtung vor Tante Shaad geradezu ins Unermessliche steigen und erfüllte mich mit dem wunderbaren Gefühl, dass auch Löwinnen ein weiches Herz haben können. Meine Tante sah mir direkt in die Augen und teilte mir dann mit, dass ich mich in Zukunft darauf beschränken sollte, von einem Gericht zuerst nur einen einzigen Löffel zu nehmen. In dem Fall, dass es mir nicht schmecken sollte, müsste sie dann nämlich nicht so viel wegwerfen. Dann nahm sie meinen Teller und stellte ihn ohne weitere Worte einfach beiseite. Schließlich sah sie mich nachdenklich an und sagte, dass ich als Kind einen überaus gesunden Appetit gehabt hätte und man mir buchstäblich alles hätte vorsetzen können. Mit den Wollmützen, die sie für mich gestrickt hatte, hätte ich ausgesehen wie ein rotbackiger Apfel. Es seien Koboldmützen mit

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