Zum Wilden Einhorn
Basartor vorbei, zweimal zögerte er davor und zweimal ging er weiter, ohne den Basar zu betreten. Bei Sonnenuntergang, als die Priester sich in ihre Tempel zurückzogen und die ersten Freudenmädchen des Abends hier promenierten, befand er sich im Park des Himmlischen Versprechens. Bei Einbruch der Nacht schlurfte er den Breitenweg entlang, hungrig und ähnlicher Stimmung wie als Fünfzehnjähriger, als er in den Hafen hinausgeschwommen war, in jener schrecklichen Nacht, und sich als blinder Passagier auf einem auslaufenden Schiff verkrochen hatte.
In der mondlosen Nacht kehrte die Erinnerung mit niederschmetternder Gewalt ungebeten zurück. In seiner Verderbtheit und besessen von dem Gedanken, seine Gefährtin habe ihn betrogen - was keineswegs der Fall gewesen war -, hatte sein Vater die Frau gemartert und getötet. An soviel konnte Walegrin sich erinnern. Nach dem Mord war er aus der Kaserne zum Hafen gerannt. Das Ende der Geschichte erfuhr er aus Lagerfeuergeschichten, nachdem er selbst Soldat geworden war. Der Mord hatte seinem Vater nicht genügt, er hatte die Leiche auch noch zerstückelt. Kopf und Organe hatte er in die Kanalisation des Palastes geworfen und den Rest in den Kochkessel der Garnison.
In Freistatt gab es keine Nachtwächter, die die Zeit ausriefen. Wenn der Mond am Himmel stand, konnte man wenigstens die Zeit anhand seiner Höhe schätzen, doch ohne ihn, wie heute, war die Nacht wie eine Ewigkeit, und Mitternacht der Zeitpunkt, an dem man steif wurde vom langen Herumsitzen auf dem feuchten Steinhaufen am Breitenweg, und die Erinnerungen einem das Blickfeld zu beschränken drohten. Walegrin kaufte dem ausgemergelten Wächter am Schlachthaus eine Fackel ab und betrat den Basar.
Gleich nach dem zweiten Falkenschrei trat Illyra aus der Schmiede. Sie war in einen dunklen Umhang gehüllt, den sie eng an sich hielt. Ihre Haltung verriet ihre Angst. Walegrin ging stumm und eiligen Schrittes vor ihr her. Als die Kaserne in Sicht kam, nahm er ihren Arm. Sie zögerte nur kurz, dann eilte sie ohne seinen Zuspruch weiter.
Walegrins Männer ließen sich nicht im Aufenthaltsraum sehen, der die Offiziersquartiere von den Mannschaftsunterkünften trennte. Die wiedererwachte Erinnerung trieb Illyra wie ein Tier im Käfig hin und her.
»Du brauchst einen Tisch, Kerzen und was noch?« fragte Walegrin ungeduldig, weil er die Sache hinter sich bringen wollte, und weil er plötzlich daran dachte, daß er sie ausgerechnet hierher zurückgebracht hatte.
»Es ist soviel kleiner als in meiner Erinnerung«, murmelte sie und fügte rasch hinzu: »Nur den Tisch und Kerzen, alles andere habe ich mitgebracht.«
Walegrin schob einen Tisch näher an den Ofen. Während er die Kerzen zusammensuchte, nahm sie den Umhang ab und breitete ihn über den Tisch. Sie trug ein unauffälliges Wollgewand, wie die anständigen Frauen eines besseren Viertels, nicht die grellbunten Röcke und die Bluse einer S'danzo. Walegrin fragte sich, von wem sie es ausgeliehen und ob sie ihren Mann doch eingeweiht hatte. Aber es interessierte ihn nicht wirklich, solange sie den seiner Scherbe anhaftenden Zauber brechen konnte.
»Soll ich dich alleinlassen?« fragte Walegrin, nachdem er die Tonscherbe aus dem Beutel genommen und auf den Tisch gelegt hatte.
»Nein, ich möchte hier nicht alleinbleiben.« Illyra mischte ihre Karten, und in ihrer Nervosität entglitten ihr ein paar. »Ist es zuviel verlangt, um einen Schluck Wein zu bitten und um Auskunft, wonach ich eigentlich suchen soll?« Ein Teil ihrer Selbstsicherheit kehrte zurück, und sie fühlte sich in diesem Raum nicht mehr ganz so verloren.
»Mein Mann Thrusher wollte ein Fest veranstalten, als ich ihm sagte, daß ich heute nacht den Aufenthaltsraum brauche, doch dann erklärte ich ihm, daß ich die Männer hier nicht sehen wolle. Aber es wäre eine arme Kaserne, ärmer noch als Freistatt, fände sich hier keine Flasche.« Hinter einem Schränkchen entdeckte er einen halbvollen Weinbeutel. Er spritzte sich ein wenig daraus in den Mund und schluckte mit schiefem Lächeln. »Nicht der beste Jahrgang, aber genießbar. Ich fürchte allerdings, du mußt aus dem Beutel trinken ...«Er händigte ihn ihr aus.
»Ich trank aus einem Beutel, ehe ich den ersten Becher sah. Es ist nur ein kleiner Trick, den man nie vergißt.« Sie nahm einen Schluck, ohne einen Tropfen zu vergießen. »So, Walegrin«, sagte sie, angeregt durch den abgestandenen Wein. »Walegrin, mir gehen weder deine
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