Zungenkuesse mit Hyaenen
Zeigefinger aus, leckte schamlos auch ein Bügeleisen, zwei CDs und ein goldenes Buch sauber und nieste ein halbes Dutzend Mal. Ich betrachtete das Buch. Ein goldenes Notizbuch, vollgeschrieben und honigverklebt. Die Tragweite war mir da noch nicht klar. Im Gegenteil, ich hätte das Notizbuch umgehend gegen einen Schinken getauscht.
Ich schleppte mich auf mein Lager zurück. Ein erstes Gefühl der Sättigung trat ein. Was genau war das? Ein vollgekritzeltes Büchlein, vielleicht ein Tagebuch! Das Tagebuch der Roten Müllerin! Honigduft mischte sich mit Anflügen von Schimmel. Die Seiten klebten fest aneinander. Manche Worte am Rand konnte man lesen, Mittwoch, Winter, Cello, Rizz, die meisten aber nicht. Ich nieste erneut. Mein Herz schlug schneller. Ich Glückskind im Pech! Der Fund war so vielversprechend wie nutzlos. Es stand alles dort, das ganze Geheimnis der Müllerin. Ich musste die Nuss nur knacken.
Am nächsten Tag erwachte ich mit Fieber. Klarhabbisch, der meinen desolaten Zustand sah, schlug die Hände zusammen, als ich meinen entzündeten Finger herzeigte. Er braute einen Salbeisud, ich musste den Finger in ein Teekännchen hängen und las währenddessen den Mittagskurier . Kein Wort mehr von Müller, keins von der Müllerin. Über die Geschichte wuchs Gras. Aber sie saß in mir wie eine Fieberphantasie. Ich musste an Müller herankommen. Ich musste das Honigbuch lesbar machen.
Ich lief zur Filiale meiner Bank. Straßenarbeiter mit orangefarbenen Anzügen ließen Presslufthämmer tanzen, und ich bewegte meine Beine im Takt ihres Knatterns. Dabei sprang ich in Pfützen, der Schnee schmolz, der Finger heilte, alles würde gut werden. Die Rizzer zogen ihre Wintermützen vom Kopf, und Hoffnung stand in ihren bleichen Gesichtern. Mutters Geld war eingetroffen. Der Schalterbeamte fragte mich, ob ich mein Geld für regenerative Energien, für Wohnprojekte, für Gesundheit oder für Kultur anlegen wolle, aber ich hob alles ab.
Wieder zu Hause, legte ich die nassen Schuhe auf die Heizung undzerrte das Honigbuch aus der Plastiktüte, in die ich es gesteckt hatte, in der Annahme, der Honig sei inzwischen versiegt. Weit gefehlt, der Zustand hatte sich eher verschlechtert. Es war hart wie ein Brikett.
FACKELN IM STURM
Das Honigbuch war ein Safe, zu dem noch der Schlüssel fehlte. Ein Safe, in dem ein Schatz lag, den ich noch nicht heben konnte. Blieb der Erfolgsproduzent Müller. Er lebte, an ihn musste ich heran, bis ich wüsste, wie das Honigbuch zu decodieren sei. Ich würde meine Annäherung festhalten, würde nach Dingenskirchen fahren, alles auskundschaften, mir jedes Detail notieren. Jetzt, jetzt sofort. Zwischen dem Asphalt wuchs schon das erste Gras, und im Stadtpark sah ich zartlila Krokusse, die sich durch Schneereste geschoben hatten und zögernd öffneten. Ich hätte mich gern dazwischengelegt, an einem Grashalm gekaut und von der Roten Müllerin geträumt, aber wenn ich ein Journalist sein wollte, und, bei Gott, das wollte ich, war kein Zaudern mehr möglich. Die Adresse des Produzenten war bekannt, seine Gelbe Villa würde schon von weitem leuchten, das größte Medieninteresse dürfte mittlerweile verflogen sein, und Big Ben war ein zu guter Geschäftsmann, um mich fürs Nichtstun zu bezahlen.
Gleich hinterm Leuchtturm hielt ich ein Taxi an. »Nach Dingenskirchen bitte!«
»Wohnen Sie in dem Geheimdiensthaus?«, fragte der Taxifahrer und zeigte auf den Leuchtturm.
Er sprach Rizzisch, ein Idiom, in das ich mich mittlerweile hineinzulauschen begann. Die weichen Konsonanten wurden hart, die harten weich gesprochen, die Vokale eher gequäkt.
»Ich wohne dort, im Leuchtturm.«
»Na, der Leuchtturm war im Kalten Krieg das Hauptquartier vom Geheimdienst.«
»Ach? Ich denke, da wohnen nur Schwule drin?«
»Neuerdings.«
Eine weitere überraschende Information. Schwule, Geheimdienst, Tingeltangel – alles in meinem Haus. Als der Taxifahrer hörte, dass ich zur Villa des Erfolgsproduzenten wollte, drehte er sich mit dem ganzen Oberkörper herum und sah mich an, als wollte er sich mich für immer einprägen. Unglücklicherweise fuhr er dabei weiter. Ich klammerte mich am Hängegriff fest. Wir kamen leicht von der Straße ab, fingen uns aber rasch wieder. Eine Krähe flog in Zeitlupe an uns vorbei, hielt kurz in der Luft inne und fixierte mich, als wolle sie zuhacken. Ich fühlte mich wie Tippi Hedren, die Alfred Hitchcock tagelang mit lebenden Vögeln bewerfen ließ. Mutters Vorliebe für alte Filme
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