Zungenkuesse mit Hyaenen
Müllers Rollstuhl gefährlich zu kippeln beginnt.
»Du bist umwerfend«, sagt er, routiniert auf den Hinterrädern balancierend. »Aber du würdest keinen Krüppel schubsen.«
»Warum denn nicht?«
»Weil du an moralischer Verkitschung leidest.«
»Na, sei bloß froh«, sagt sie und zieht den Fuß zurück.
Es ist nie harmlos, wenn Müller und Müllerin zusammen sind. Selbst in den schönsten Sonnenschein mischt sich die Vorahnung eines Gewitters. Gefahr liegt in der Luft, Gefahr, der man sich um keinen Preis aussetzen möchte. Jede Belanglosigkeit kann den Ausnahmezustand herbeiführen. Jedes Geplänkel ist nur die Ruhe vor dem Sturm.
»Ihr mit eurem Gerede immer!«
»Wer – wir?«
»Na, ihr – Emanzen!«
»Aber ich bin die einzige Emanze, die du kennst.«
»Kennste eine, kennste alle.«
Sie zieht sich wortlos das Hemd über den Kopf. Springt vom Tisch. Steht barbusig vor ihm und ohrfeigt ihn mit dem Anblick ihrerJugend. Ihre Zornesader ist geschwollen. Im Hals pulsiert das Blut. Müller duckt sich, löst die Bremsen des Rollstuhls und fährt langsam zurück. Gleich kracht's.
»Ich schubs dich um, du blödes Schwein. Du Chauvi. Du Nazi«, brüllt sie, läuft halbnackt in den Garten hinaus und knallt die Tür. Schimpfend hockt sie sich draußen hin und pinkelt mitten auf seine Tropenholzterrasse. Zwei Minuten später kommt sie zurückgerannt, wirft sich theatralisch vor ihm nieder, schmiegt ihre Wange an seine Knie und will sich wieder vertragen. Sie packt die Armlehnen seines Rollstuhls, er kann ihr gar nicht entkommen, sie küsst ihn lange und heftig.
»Sag ich doch«, ruft er, als er wieder Luft schnappen kann, »du leidest an moralischer Verkitschung.«
LEICHENFLEDDEREI
Hunger riss mich aus meinen Phantasien heraus. Ein Salatblatt war noch da und eine Brötchenrinde mit einer Spur Mayonnaise. Eine kleine Tüte Zucker von Klarhabbischs Kaffee fand ich, die den Speichelsee unter meiner Zunge nur noch steigen ließen. Ich leckte hastig jedes Krümchen auf, trank Leitungswasser lau aus dem Hahn, sah mich in Mülltonnen wühlen und am Schimmel harter Brotkanten nagen. Das Wasser rann über mein Gesicht wie der Champagner in meinem Traum. Mein Spiegelbild blickte mir hohläugig entgegen. Warum sollte Mutter stolz auf mich sein?
Das Laken der Roten Müllerin war wieder einsatzfähig. Ich entkleidete mich und legte mich hin. Wäsche müsste ich waschen, Lebensmittel kaufen, aber wovon? Hatte man automatisch einen Überziehungskredit, wenn man ein Konto bei einer Ökobank eröffnete, sozusagen Kredit als guter Mensch? Wann würde Mutters Geldeintreffen? Konnte ich mir in Big Bens Buchhaltung einen Spesenvorschuss auszahlen lassen, um ihn dann zu verfressen? Gab es einen Vorwand, unter dem ich bei Frau Puvogel Lachscreme-Sternchen oder bei Klarhabbisch alte Brötchen schnorren könnte? Sollte ich durch Restaurants schleichen und Reste von Tellern klauben? Sollte ich bei meinem Nachbarn David klingeln? Ich sah mich im Matrosenhemd und verwarf die Idee.
Ich hier, der Schrank da. Ich offen, der Schrank verschlossen. Ob etwas Essbares drin war? Es war noch nicht sicher, wer den Kampf gewinnen würde: mein knurrender Magen, meine Müdigkeit, meine Neugier. Der Hunger, den ich fühlte, war mein erster realer Hunger.
Mutter hatte mich immer gefüttert. Sie war, selbst bei Stubenarrest, in mein Zimmer getreten und hatte mir ein Schmalzbrot, eine Essiggurke, ein Stück Schinken gebracht. Wenn sie nur hier wäre! Ich wünschte es heftig. Der Hunger brachte mich wieder auf die Beine. Ich rüttelte an den Schranktüren, sah mich gierig um, womit sie aufzubrechen wären. Einem Stift? Einem Kleiderbügel? Einer Schere? Einer Kreditkarte? Ich wühlte wie besinnungslos in meinen Sachen. Rohe Gewalt war für mich ein Schloss mit sieben Siegeln. Erst mit meinem Verstand konnte ich die Hürde überwinden. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, tastete die Oberseite des Schrankes ab und – fand den Schlüssel. Knarrend öffnete sich das Schloss. Da waren sie, die Habseligkeiten der Roten Müllerin. Die ersten Fundstücke erwiesen sich als Enttäuschung, jedenfalls, was den Nährwert betraf: Klamotten, Kartons, Tüten, Bücher, Ordner. Aber aus dem unteren Kleiderfach roch es. Es roch. Es roch gut. Es roch – süß. Klebrig waren meine Hände, als ich wühlte und schließlich ein fast leeres Honigglas darin hielt. Es hatte sich geöffnet und eine Sauerei angerichtet. Ich leckte das Glas ab, wischte es mit dem gesunden
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