Zungenkuesse mit Hyaenen
Jackentasche. Es fehlte nicht viel, und ich hätte das Mädchen geohrfeigt.
»Bewahren Sie Ruhe«, sagte die Männerstimme nochmals. Dann verstummte der Lautsprecher.
»Gib mir mal meinen scheiß Rucksack!«
Sie drehte sich von der Fahrstuhlwand weg, an der sie lehnte, und hielt mir ihren Rucksack hin. Ich berührte versehentlich ihr Schulterblatt, das wie ein kleiner Flügel herausstand.
»Kannst du – gar nicht?«, fragte ich.
»Laufen? Leider nicht«, sagte sie und schlug die Fäuste auf die Knie. »Mein Rückenmark ist heil, aber mein scheiß Kopf will nicht. Ich kann die Beine nur herumschlenkern, ohne die Gestelle würden sie einknicken. Psychogene Lähmung heißt das. Wie bei Klara Sesemann.«
»Wer ist Klara Sesemann?«
»Na, die Freundin vom Heidi, die, die nicht laufen kann. Der Alp-Öhi trägt sie. Abgesehen davon bin ich eine ganze normale Frau.«
Eine ganz normale Frau. Hieß das, dass man mit ihr Sex haben konnte? War das eine Aufforderung zum Sex? Mit der roten Lockenperücke hatte sie ein bisschen sexy ausgesehen. Ich gab ihr den Rucksack, sie hängte ihn an die Krücke und wühlte darin.
»Teilnehmer? Wir versuchen mit unseren örtlichen Hilfskräften in Kontakt zu treten. Es kann dreißig Minuten dauern. Wenn es länger dauert, melden wir uns wieder. Bewahren Sie Ruhe. Teilnehmer? Teilnehmer?«
Dreißig Minuten? Gritli legte den Finger auf den Mund. Sollten sie doch denken, wir seien erstickt. Es rauschte, es pfiff, dann war der Anschluss tot. Mir war wodkawarm, so wunderbar wodkawarm, mein Bauch brannte, mein Gesicht war erhitzt. Mein Blut drängte nach außen. Und mein Saft erst. Ich war zu allem fähig. Aber wo könnte ich hinpinkeln?
»Tataah!«, rief Gritli abermals und zog ein glibberiges Etwas aus der Tasche, dessen oberes Ende wie eine dieser Gummivaginas geformt war, die ich bei Beate Uhse in Grimmelshausen gesehen hatte.
»Was ist das?«
»Eine Pissflasche!«
»Ein Urinal?«
»Genau, eine scheiß Pissflasche.«
»Ich kann doch unmöglich ...«
»Wieso nicht?«
»Aber dort oben ist eine Kamera.«
»Ach, das ist nur eine Attrappe, sagt die Puvogel!«
»Und wenn nicht?«
Gritli zog ihr Kopftuch vom Haar. Sie reichte es mir. Ich knüpfte es um die Kamera.
»Trotzdem«, sagte ich.
»Dann mach dir halt in die Hose.«
»Aber hier sind überall Spiegel.«
»Klar, Einwegspiegel, dahinter sitzen schwule Geheimdienstoffiziere, die dich unbedingt mal pinkeln sehen wollen.«
»Sehr lustig. Ich kann doch nicht in Anwesenheit einer Dame ...«
Sie lachte dreckig, wie um unter Beweis zu stellen, dass sie alles war, nur keine Dame.
Ich fing an, besinnungslos hin- und herzutorkeln. Mit schweißfeuchten Händen stützte ich mich an den Spiegeln ab und hinterließ hässliche Schmierflecken. Lieber würde ich in die Hose machen, als in so ein obszönes Gerät zu pinkeln. In ein vermutlich bereits BENUTZTES Gerät, überdies vor Publikum. Ich kannte doch diese Frau gar nicht. Und selbst wenn. Nicht einmal vor Mutter hatte ich jemals uriniert. Das heißt natürlich, seit meiner Pubertät.
»Warum hast du so eine Flasche dabei?«
»Na, falls ich mal mit einem blasenschwachen Journalisten im Fahrstuhl steckenbleibe. Ich hab sie heute früh ausgespült, also was?«
Meine Schamgrenze war, ganz im Unterschied zum Blasendruck, gesunken, und einen heroischen Moment lang schien mir die Sache plausibel. Das war ein Notfall, sie und ich eine Schicksalsgemeinschaft.
»Also, gib her.«
Ich wendete mich ab und achtete darauf, dass ich mein eigenes Spiegelbild verdeckte. Ich öffnete meine Hose und verstaute mein vorSchreck halb erigiertes Glied in der Flasche. Es war zu kurz geraten. Sie durfte es auf keinen Fall sehen, sonst würde sie mich auslachen.
»Was ist los?«
»Es geht nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil du zuschaust.«
»Unsinn, ich seh doch gar nix.«
»Dann, weil du zuhörst.«
»Weil ich – wie verklemmt ist das denn?«
»Ich bekomme Harnverhaltung, wenn jemand danebensteht.«
»Okay, Scheiße, ich halt mir die Ohren zu. Hör, ich singe!«
Sie presste, von den Krücken unter den Armen gestützt, theatralisch ihre Handflächen auf die Ohren und begann lauthals zu singen.
»In einem Bächlein helle, da schoss in froher Eil / die launische Forelle vorüber wie ein Pfeil. / Ich stand an dem Gestade und sah in süßer Ruh / la lala lalalala lala – Weiter kann ich nicht.«
Ich pinkelte. Ach, wie herrlich das war. Ich stand an dem Gestade und pinkelte. Es war, als könnte
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