Zungenkuesse mit Hyaenen
nah beieinanderstanden und sie von kleinem Wuchs war, musste sie zu mir aufblicken, was mein Selbstvertrauen stärkte.
»Ja, ich bin Journalist«, sagte ich und spürte ein Vorgefühl des Ruhmes, der bald auf mich herabfallen würde. »Journalist und Schriftsteller.«
Es gab einen harten Ruck, und der Fahrstuhl kam zum Stehen.
»Oh«, rief die Schweizerin und setzte die Krücken schräg vor sich auf den zitternden Boden. Vielleicht kommentierte sie mit dem Oh den Schriftsteller, vielleicht den Ruck. Ich würde es nicht mehr erfahren. Es war zu spät. Wir würden abstürzen. Ich würde kein Bohemien sein und nicht in Kaffeehäusern sitzen. Niemals mehr würde ich Mutters Stimme hören, nie den Ruhm kosten, nie die Zunge in eine Frau stecken. Die beiden Knöpfe, 6 und 20, leuchteten nicht mehr, die Deckenlampe wurde etwas dunkler.
»Romantisch!«, rief die Schweizerin. »Ich wollte schon immer mal im Fahrstuhl steckenbleiben! Also, mit einem Mann.«
Sie wollte also steck-ccchenbleiben. Mit einem Mann. Ich hatte durchaus gegenteilige Gefühle. Zumal ich mit Mutter dreimal den Film »Abwärts« gesehen hatte. In dem Film gibt es eine Szene, in der ein Drahtseil reißt und die Fahrstuhlkabine dreißig Meter in die Tiefe saust.
In den Wänden spiegelten sich zwei Gesichter, das begeisterte der Schweizerin und mein panisches. Ich drückte alle Knöpfe. Sie blieben dunkel.
»Ich würde mal den roten versuchen«, sagte sie.
Ich drückte auf den roten Alarmknopf, den ich natürlich übersehen hatte. Es knisterte. In »Abwärts« war es an einem Freitagabend passiert. Vier Leute im Fahrstuhl, und der Sicherheitsmann pennt. Das würde diesmal anders sein. Es war ja Wochentag und dies ein Wohnhaus, kein verwaistes Bürogebäude. Fieberhaft überlegte ich, welcher Wochentag war. Die meisten Leute stürzen nicht ab mit dem Fahrstuhl, sie ersticken. Geschätzte zwei Kubikmeter Luft für zwei Leute. Wie lange würde das wohl reichen? Jetzt war ein brüchiges Telefonrufzeichen zu hören. Es klang so fern wie Australien.
»Hallo?«, rief ich in den roten Alarmknopf. »Hallo?«
Das Rufzeichen wurde unterbrochen. »Unsere Plätze sind leider im Moment belegt, versuchen Sie es später noch mal.«
Es knackte, und die »Ballade pour Adeline« von Richard Clayderman erklang. Die Schweizerin quiekte vergnügt und klatschte in die Hände. »Fahrstuhlmusik«, rief sie, »Micccchael, pack-ccchen Sie den Wodka aus.« »Es ist Vormittag«, sagte ich. Als gälten Konventionen in einer solchen Situation.
Sie schnalzte mit der Zunge. »Kennen Sie die Fahrstuhlszene aus ›Eine verhängnisvolle Affäre‹ mit Glenn Close und Michael Douglas?«
Und ob ich die kannte. Da war er, der kleine Unterschied. Sie dachte an »Eine verhängnisvolle Affäre«, ich an »Abwärts«.
Ich drückte mit dem Daumen auf den roten Alarmknopf. Die Musik verstummte. Ein lautes Piepen ertönte. Dann herrschte Stille. Ich trommelte gegen die Fahrstuhltür: »Hilfe, Hilfe!«
»Na«, sagte die Schweizerin, »so gefährlich bin ich nun auch wieder nicht.«
Sie schnappte nach der Papptüte, die ich zwischen uns gestellt hatte, zog die Wodkaflasche heraus, öffnete sie und nahm, von den Krücken unter den Armen gestützt, einen langen Zug.
»Hier riecht's gut«, sagte sie. »Was ist noch in der Tüte? Was Süßes?«
»Nein. Ich esse nie Süßes. Ich bin allergisch.«
»Gegen Süßigkeiten?«
»Schokolade, Milch, Katzen, Hausstaub.«
»Frauen?«
»Hallo?«, sagte eine Männerstimme. »Teilnehmer?«
Gott, wie glücklich ich war! »Hier«, rief ich. »Hier! Wir stecken im Fahrstuhl fest.«
Es pfiff und rauschte. Die Schweizerin wühlte in der Papptüte und förderte das Honigbuch zutage.
»So hören Sie doch auf zu knistern«, rief ich und versuchte sie am Handgelenk zu packen.
»Sprechen Sie nach dem Pfeifton«, sagte die Männerstimme, »sonst kann ich Sie nicht verstehen.«
»Was ist das?«, sagte die Schweizerin und führte das klebrige Buch zur Nase.
»Wo sind Sie?«, sagte der Mann.
»Das ist ein wichtiges Indiz in einem Mordfall. Ist Honig drüber gelaufen.«
Ich wartete ordnungsgemäß den Pfeifton ab. »Im Fahrstuhl, wir sind im Fahrstuhl.« Es pfiff und rauschte. Dann wieder Stille.
»In welcher Stadt?«
»Was?«
»In welcher Stadt sind Sie?«
»Rizz«, stieß ich heiser hervor.
»Bitte warten Sie auf den Pfeifton«, sagte die Männerstimme.
»In RizzRizzRizz«, rief ich und drehte mich entsetzt zu meinerLeidensgefährtin um, die die
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