Zungenkuesse mit Hyaenen

nicht nur im Bistro, im ganzen Leuchtturm: die Spiegel, die Kamera im Fahrstuhl, die fehlenden Schlüssel meines Apartments, die soziale Kontrolle durch Frau Puvogel, gepaart mit Klarhabbischs beispielloser Geschwätzigkeit. Die ganze Stadt erschien mir doppelbödig. Die Menschen auf der Straße, die Gebäude, die ich betrat, die Gegenstände, die ich benutzte, jeder und alles hatte etwas zu verbergen, sogar der gelbe Kran, ein Geheimnis, ein dunkles Geheimnis, das nur darauf wartete, gelüftet und ans Licht gebracht zu werden. Rizz kam mir vor wie eine Moorblase, die zu platzen drohte.
    Ich klingelte mehrmals bei David, um ihn nach dem Grund seines eigenartigen Verhaltens zu fragen, traf ihn aber nie an. Ich hatte Alpträume, in denen Big Ben den Rohrstock schwang und Mutter mir Essiggurken reichte. Meine Telefonate mit Mutter waren angespannt. Was wir einander verschwiegen, belastete unser Verhältnis. Ich wahrte die Form, berichtete ihr von disziplinierten Arbeitstagen, von Recherchen, Interviewterminen und Rohschriften, die es in der Form ja gar nicht gab. Ich erzählte von Gritli, die meine neue Assistentin sei.
    »Das arme Geschöpf«, ließ Mutter fallen, erfreut, dass sie in Sachen Hürlimann richtig gelegen hatte. Erst der schreckliche Unfall, dann habe sie ihre Eltern bei einem Flugzeugabsturz verloren. Aber sie sei ja recht wohlhabend. Was Mutter immer wusste! Aber einiges wusste sie eben auch nicht. Allerdings gab es ja auch genügend Dinge, die ich nicht wusste, die ich auch über Mutter nicht wusste, und nachts zermarterte ich mir den Kopf, ob Müller Mutter wohl wirklich kannte, und wenn ja, woher, und endete immer bei der Überlegung, dass ich es lieber nicht wissen wollte. Es gab Türen, die sollte man nicht öffnen. Allerdings konnte ich nicht verhindern, dass die fremden Mächte, die in Rizz wirkten, sich mehr und mehr schattenhaft zwischen Mutter und mich schoben.
    So stand ich plötzlich ganz ohne Vertrauensperson da. Das geht nicht, allein in einer fremden Stadt, da kann man nichts herausfinden. Man braucht ein Netz mit festen Maschen, durchlässig, aber nicht instabil, fest, aber nicht fesselnd. Wem aber könnte ich vertrauen? Frau Puvogel war mit Vorsicht zu genießen, Big Ben stand einer Klatschzeitung vor, Klarhabbisch war ein Plappermaul, Kuki ein ferner Star, Hanna voller Männerhass, und die Rote Müllerin, der ich jedes Geheimnis offenbart hätte, war mausetot. Vielleicht war Gritli mein einziger Freund in der Stadt. Ich googelte ihren Fenstersprung und wurde im Online-Archiv des Mittagskuriers fündig:
    TEENAGER SPRANG IN DIE TIEFE
    Ein 17-jähriges Mädchen ist am Vormittag aus dem 6. Stock des Leuchtturms in der Citymeile gesprungen. Es wurde mit schweren inneren Verletzungen in die Zentralklinik gebracht. Ein Sprecher der Polizei gab bekannt, dass es sich um einen Suizidversuch aus enttäuschter Liebe gehandelt habe. Die Eltern des Mädchens überließen der Polizei einen Abschiedsbrief, der, wie ein Insider dem Mittagskurier mitteilte, an einen gewissen David gerichtet sei.
    HOMOSEXUELLER BRACH GRITLIS HERZ
    Beim Fenstersprung-Mädchen handelt es sich um Gritli Hürlimann, Tochter des Luzerner Rechtsanwalts Heribert Hürlimann von Hürlimann & Partner. Nach Angaben von Luzie und Heribert Hürlimann handelt es sich bei der unglücklichen Liebe ihrer Tochter um den Rizzer Modedesigner David Königstein, der vor einigen Monaten im 20. Stock des Leuchtturms sein Atelier bezog und bei dem das Mädchen ein Praktikum absolvierte. Sie war davon ausgegangen, dass er ihre Gefühle erwidere, habe dann aber durch Zufall erfahren, dass David Königstein homosexuell sei.
    RÜCKGRAT HEIL – HERZ KAPUTT
    Gritli Hürlimann ist wieder bei Bewusstsein. Sie hat Arm-, Bein- und Rippenbrüche erlitten, auch eine Schädelprellung und eine Gehirnerschütterung, aber ihr Zustand ist stabil, ihr Rückenmark unverletzt. Dennoch könne es sein, dass sie durch die seelischen Folgen des Aufpralls, so Professor Bornemann von der Unfallklinik Rizz exklusiv zum Mittagskurier , nie wieder laufen wird.
    Auch ein Foto von David war im Internet zu sehen. Er stand vor Gritlis Bett mit einem Blumenstrauß. Welch tragische Verwicklung! Und beide wohnten weiterhin im Leuchtturm. Deswegen hatte David auf dem Balkon so gefuchtelt. Er war der Verursacher, und nun hielt Gritli zu allem Überfluss auch mich für schwul. Sie war zwar eine große Arbeitserleichterung, sie kümmerte sich mit Hochdruck um das Honigbuch, aber ihr