Zungenkuesse mit Hyaenen
Schicksal beelendete mich. Ich googelte Heribert Hürlimann und fand zwei Meldungen:
Ein Flugzeugabsturz in eine Slumsiedlung der philippinischen Hauptstadt Manila forderte heute mindestens dreizehn Tote. Ob sich Deutsche unter den Opfern befinden, ist noch nicht bekannt.
Der Flugzeugabsturz in Manila hat inzwischen 15 Todesopfer zu beklagen. Deutsche befanden sich nicht darunter, aber zwei Schweizer, die in Deutschland lebten: der bekannte Jurist Heribert Hürlimann und seine Frau. Die Absturzursache ist noch ungeklärt. Das Ehepaar Hürlimann hinterlässt eine Tochter.
Die »Tochter« war mit einem Hyperlink unterlegt, der wiederum zu Gritlis Fenstersprungmeldungen führte. Ich ließ mir Gritli gegenüber nicht anmerken, dass ich nun ihr Geheimnis kannte. Wir hatten gemeinsam in stundenlanger Kleinarbeit die Seiten voneinander gelöst und in durchsichtige Hüllen gelegt wie in Schutzfächer. 46 Doppelseiten des Honigbuches waren präpariert. Gritli hatte von jeder Seite Farbkopien anfertigen lassen und mir übergeben. Die Originale hatte sie behalten, um eine Rekonstruktion zu versuchen.
Es waren nun 70 rosa-grau-gelbliche A4-Blätter mit blauen Wolkenlinien, mit denen ich den Boden meines Apartments ausgelegt hatte. Einzelne Worte, starke, parolenartige Worte wie GLÜCK, ANGST, HASS, LIEBE waren schemenhaft zu erkennen, ergaben aber noch keinen Sinn. M. kam oft vor, das musste wohl Müller sein. Mein nächster Arbeitsschritt wäre, die Schrift der Müllerin zu studieren. Wenn ich wissen würde, wie sie die kleinen »n« schrieb, wie sie trennte, abkürzte, den Füller hielt, wenn ich herausgefunden hatte, wohin ihre Buchstaben an schwachen Tagen rutschten, dann würde ich sie besser kennenlernen. Ich lebte im Rätsel der Roten Müllerin wie in einem Kokon. Sie bestimmte meinen Tag. Sie wurde mein Roman.
MÄTRESSEN
Felicitas Müller starrt in ihren leeren Kühlschrank. Müllers Kühlschrank ist immer voll. Umso mehr braucht sie ihren leer. Alles soll hier in der Stadt anders sein als auf dem Land. Bei ihm ist Nähe, Völlerei und Kampf, hier ist Kargheit, Improvisation und Arbeit.
Müller bunkert in seinem 5000-Euro-Kühlschrank in Leinen gegossene Dauerwürste, nach denen sie regelrecht süchtig ist. Sie frisst Müllers stinkteuren Camembert, sie säuft seinen schottischen Hochland-Whisky, seinen Bordeaux, seinen Champagner. Aber wenn sie diese Einzelattraktionen, Dauerwurst, Whisky, Champagner, testhalber mit in ihre Stadtwohnung nimmt, schmecken sie ihr nicht. Sie müssen am richtigen Ort gefressen und gesoffen werden.
Und dann die Schlaflosigkeit. Ist sie bei Müller, fällt sein Schnarchen wie ein warmer Regen auf sie nieder. Sie schläft tief und behütet im Rhythmus seines Schnarchens. Aber wenn sie es auf Band aufnimmt und in ihrer Stadtwohnung abspielt, im Bett, unterm Kopfkissen, um ihre chronische Schlaflosigkeit zu bekämpfen, dann ist es ohne jede Magie. Was ist das nur? Warum sind die Genüsse, die Rituale, so fest an sein Haus gebunden?
»Du hast überhaupt keine Interessen.«
»Brauch ich nicht. Ich hab Mätressen.«
Niemals, nicht mal zeugenlos, würde die Rote Müllerin sich eingestehen, dass sie Müller vermisst. Er ist es, der ihr den Heißhunger bringt, den Seelenfrieden, den Schlaf. Er ist die Chinesische Mauer, an der sie sich den Kopf einrennt. Er rüttelt mit seiner ruinösen Weltsicht an ihren Grundfesten. Für ihn will sie schön und geistreich sein, an seinen Launen, Dogmen, Zipperlein ist sie interessiert. Sie nimmt eine Schlaftablette, fischt nach dem goldbeknopften Altherrenblazer, den sie ihm gestohlen hat, hüllt ihren nackten Körper in seinen Geruch, in seine Form, und schläft ein.
MASKERADE
Gritli ging an Krücken, ich gab mich als schwul aus, das waren ideale Voraussetzungen für eine platonische Beziehung – wenn man die Grenzen nicht überschritt. Und wieder bewahrheitete sich mein Sinn für eine kleine Maskerade: Der Mensch musste flexibel sein, auch mal Eierkäufer, auch mal Polizist, auch mal schwul. Gritli stellte das Flirten ein und legte stattdessen eine illusionslose Herzlichkeit an den Tag.
Einmal erzählte sie mir von ihrer Zeit nach dem Unfall, wie man versucht hatte, sie auf die Beine zu stellen und zum Laufen zu bringen, aber wie sie immer wieder eingeknickt sei, weil es eben einfach »nicht ging«, wie sie dann gelernt hatte, sich auf Orthesen, an Krücken, zu bewegen, weil sie partout nicht in den Rollstuhl wollte, und wie sie sich inzwischen mit
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