Zungenkuesse mit Hyaenen
Müller. »Ich muss ins Büro, und Sie kommen mit. Moment noch.«
Er fuhr in sein Schlafzimmer, öffnete die Schiebetür des Schranks und ließ ein beleuchtetes Krawattenkarussell im Kreis fahren. Ich stand verlegen in der Tür und sah den Deckenspiegel, den Kamin, die Bar und sein obszön großes, von den Anstrengungen der Orgiennacht zerwühltes Bett. Müller reichte mir eine silberfarbene Krawatte.
Minuten später stand ich abreisebereit vor Müllers BMW. Pilz hatte Müller abgeholt und den Rollstuhl zur rechten hinteren Autotür gefahren. Er hatte den Erfolgsproduzenten beim Hupf ins Auto unterstützt, den Rollstuhl beiseitegeschoben, dann mir die linke hintere Tür aufgehalten und war selbst eingestiegen. Müller warf achtlos seine Aktentasche auf meine Füße – offenbar saß selten jemand neben ihm.
Kurz hinter dem Tor stoppten wir.
»Da winkt jemand«, sagte Pilz und zeigte nach links. Müllers und meine Augen folgten Pilz’ Finger.
»Na so was«, sagte Müller.
Ich erschrak. Da stand Gritli vor Müllers Schutzwall. Der Sicherheitsmann versuchte, den Weg zu verstellen, aber sie winkte fröhlich unter seinem ausgebreiteten Arm hindurch.
»Was soll das sein, Aktion Sorgenkind?,« murrte Müller. »Will die was verkaufen?«
Gritli hielt etwas in der Hand und wedelte damit.
»Ich spreche mit ihr«, sagte ich leise, »darf ich einen Moment ...?« »Aber hopp, hopp, Sie guter Mensch«, sagte Müller ungehalten, »beeilen Sie sich mit der Weltrettung!«
Er zog sein Portemonnaie hervor, aus dem ein fettes Bündel Geldscheine quoll, reichte mir einen 50-Euro-Schein, zog eine lachsfarbene Zeitung aus dem Türfach und schlug sie auf.
»Was machst DU denn hier?«, sagte ich.
»Ich hab mir Sorgen gemacht«, sagte Gritli. »Ich hab hundertmal angerufen und E-Mails geschickt und sogar dem scheiß David einen Gruß aufgetragen.«
»Ist angekommen«, sagte ich. »Was ist denn so eilig?« Sie hielt eine Mappe hoch.
»Du hast das Honigbuch entschlüsselt?«
»Jedes scheiß Wort!«
Ich wog die Mappe in der Hand, unschlüssig, wohin damit.
»Es gibt nur ein Problem. Ich kann das jetzt grad nicht nehmen. Hier ist es nicht sicher. Wie bist du hergekommen?«
»Mit dem scheiß Linienbus. Klarhabbisch hatte keine Zeit.«
»Hör zu – kannst du morgen wiederkommen?«
»Klar!«
»Wir treffen uns 17 Uhr drüben vor der Eisbude am Dorfplatz. Bring die Mappe mit, meine Post, Ladekabel, Computer. Sammle alle Informationen über den toten Cellisten.«
»Warte mal, der Cellist ist tot?«
»Ermordet.«
»Scheiße!«
Gritlis Augen weiteten sich in maßloser Begeisterung.
Müller ließ die Fensterscheibe herunter. »Kommen Sie, Monsieur?«
»Guten Tag«, sagte Gritli.
Müller ließ grußlos das Fenster wieder hoch.
»So ein Arsch! O. K., ich bin morgen 17 Uhr da«, sagte Gritli und nahm die Mappe wieder an sich.
»Hier!« Ich streckte ihr mit weit ausholender Geste den 50-Euro-Schein hin.
»Was soll ich damit?«
»Nimm’s einfach. Wir werden beobachtet.«
Ich stieg wieder ins Auto. Pilz fuhr los. Ich sah, wie Gritli verdattert zurückblieb, Müllers Fünfziger in der Hand.
»Hat sie Ihnen wenigstens was angedreht? Mundgemalte Glückwunschkarten?«, fragte Müller.
»Nein. Eine Spende. Für die Behindertenwerkstätten.«
Müller blickte grimmig aus dem Fenster. »Ich hasse Krüppel!«, sagte er.
Wir schwiegen eine Weile, jeder hing seinen Gedanken nach. Ein berühmter deutscher Schauspieler, dem Müller einmal eine Rolleentzogen hatte, hatte einer Zeitung gesagt: »Die Behinderung hat den Mann böse gemacht.«
»Ich bewundere«, sagte ich schließlich, »wie Sie das mit dem Rollstuhl so managen.« »Ach«, Müller winkte ab, »ein Kinderspiel.«
NACKTES ÜBERLEBEN
Damals im Krankenhaus war die Rollstuhlfrage die elementarste Überlebensfrage gewesen. Wie kriegt man einen Stuhl auf Rädern dazu, zu tun, was man will? Kann man diese Dinge ebenso üben wie Klavier? Wie kommt man eine Schräge rauf und runter? Wie kommt man ohne Hilfe raus und rein? Wie stemmt man sich wieder hoch, stößt sich ab, springt wieder hinein, wenn man rausfällt? Wie kontrolliert man Harn- und Stuhldrang? Wie zieht man sich allein an und aus? Gibt es einen Weg zu ficken? Es gab am Anfang viele Aufgaben zu lösen. In dieser Reihenfolge: nacktes Überleben, Kontrolle, Würde, Selbstständigkeit. Erst am Ende dieser logistischen Kette, an der sich Müller buchstäblich entlanghangelte, stand die Frage: Wie würde er leben und
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