Zungenkuesse mit Hyaenen
goss nach. »Auf die Weiber!«
Wie Müller mit stillen Füßen in seinem Rollstuhl saß und den Champagnerkelch schwenkte, war er eine Mischung aus Macht und Ohnmacht. Natürlich war das eine Täuschung, eine Küchentisch-Fata Morgana. In Wirklichkeit verkörperte Müller die Macht und ich die Ohnmacht. Dennoch, mein Kreislauf kam in Schwung. Die Gewohnheit der Reichen, bereits morgens Alkohol zu trinken, gefiel mir nicht schlecht. Und obwohl ich mir eben noch vorgenommen hatte, auf der Hut zu sein, leerte ich ein weiteres Glas auf die Gastfreundschaft. Ein wohliger Nieselregen ging auf mein Hirn nieder. Meine nächtlichen Gedanken erschienen mir wie eine alptraumhafte Paranoia. Ich fühlte mich mit Müller im besten Einvernehmen.
»Wollen wir über Felicitas Müller reden?«
Müller nahm sein linkes Bein und legte den Fuß aufs rechte Knie. Er schaute in die Ferne wie jemand, der sich an längst Vergangenes erinnern soll. »Die Müllerin war eine Schau! Die rote Mähne und die grünen Augen! Sie hat sich geweigert, sich die Fotze zu rasieren, und wenn ich mit ihr auf einer Party war, hat sie mir junge Mädchen zugeführt, wie Madame Pompadour. Schön war das!« Müller nahm den Mittagskurier wieder auf. »Und jetzt sind alle tot.«
»Wieso – alle? Wer ist denn noch tot?«
»Die Müllerin, die Gräfin, der Cellist – und bald auch ich!«
»Was? Der Cellist ist tot?«
Müller reichte mir die Zeitung. Die Titelzeile war: »Star-Cellist tot im See.« Darunter ein Foto von Béla. Einige Sekunden lang hörte ich nur mein eigenes Herz und meinen Löffel in der Kaffeetasse. Mein Champagnerglas hatte sich wie von Wunderhand neu gefüllt.
»Kannten Sie ihn?«
»Ich wollte auch einmal Musiker werden, als ich noch zu Fuß war.«
Müller war bereit, lächelnd durch einen Geschäftstag mit Hunderten von Entscheidungen zu pflügen, aber er war offenbar nicht bereit, meine Fragen zu beantworten. Ich stellte den toten Cellisten vorerst zurück. Müller hatte mir ein anderes Stichwort gegeben.
»Wie ist das passiert?«
»Was?«
Ich zeigte auf den Rollstuhl.
»Ach – das? Ein Autounfall. Sie sagten doch, das steht in jedem Artikel über mich.«
»Ich wusste nur nicht, ob es stimmt.«
»Sie wissen immer noch nicht, ob es stimmt.«
NIERCHENWETTER
Müller geht auf Autopilot. Er spult ab. Er zieht Antworten aus Schubladen. In Wirklichkeit erinnert er sich kaum mehr an den Unfall, und er würde nicht die Hand dafür ins Feuer legen, dass er sich so zugetragen hatte, wie er es, je nach Situation, in verschiedenen Versionen schildert, in einer kurzen, einer langen, einer ernsten, einer lapidarisierenden, einer für Mitleidige, einer für Neugierige und einer für Reporter. Er versteht, warum das die Leute interessiert. Ihn würde so etwas auch interessieren, schon allein aus phänomenologischen Gründen. Sebastian erwähnt er allerdings nie.
Dass er gelähmt ist, ist seine Normalität. Es wird ihm jeden Morgen aufs Neue klar, wenn er erwacht und nicht aufstehen und zum Klo laufen kann. In seinen Träumen läuft er, immer, wie selbstverständlich. In seinen Träumen ist er auch oft mit Sebastian zusammen.
Den Unfall selbst sieht Müller wie ein kurzes Filmfragment. Ein warmer Sommernachmittag, Sonne, Wind. Nierchenwetter nenntman das in Organspenderkreisen, wie er später in der Klinik erfahren wird. Viele Unfälle, viele Tote, viele Organe.
Sie haben eine kleine Spritztour gemacht, Sebastian und er, mit dem Käfer, den der Vater ihm zum 19. Geburtstag geschenkt hatte. Er am Steuer, Sebastian auf dem Beifahrersitz.
»Da, schau«, ruft Sebastian und zeigt auf ein junges Mädchen, das übers Feld läuft. Man kann das Mädchen nur von hinten sehen: ein rotes Kleid und kastanienbraune Haare. Ein Windstoß fährt dem Mädchen unters Kleid. Das ist das Letzte, was er weiß. Wie der Windstoß dem Mädchen unter das rote Kleid fährt, wie sich das Kleid wie ein Ballon aufbläht.
Das Nächste ist seine Mutter, die am Krankenhausbett sitzt und ihn nicht anschaut. Sie schaut aus dem Fenster.
»Dein Bruder ist tot«, sagt sie. »Dein Bruder ist tot, und du bist schuld.«
Und er will aufspringen und weglaufen, weg von hier, nach Hause, weil er sie Lügen strafen will, weil er es nicht glauben kann, weil es nicht wahr sein kann, aber er kann nicht aufspringen, er wird nie wieder laufen können, er wird nie mit einem Mädchen im roten Kleid übers Feld laufen, und Sebastian ist tot.
ICH HASSE KRÜPPEL
»Los geht’s«, sagte
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