Zungenkuesse mit Hyaenen
Vieraugengesprächen und Telefonaten anwesend, die Müller an jenem Tag führte, durfte Notizen machen, mich umsehen und Müller in ruhigen Momenten Fragen stellen. Meist jedoch hörte ich zu und beobachtete.
Müller verhielt sich, als sei ich nicht da. Ab und zu fiel sein Blick auf mich, manchmal musterte er mich wie von weit her kommend und schien Mühe zu haben, mich einzuordnen. Dann rief er mir etwas Launiges zu oder klagte über seine arthritischen Hände, sein Kreuz, seine Unlust auf diesen oder jenen Termin.
Durch Müllers Umgang mit Dritten bei Telefonaten oder Audienzen fiel mir auf, dass die Vertraulichkeit, die er mir gegenüber an den Tag legte – bis auf die Tatsache, dass er offenbar ein katastrophales Namensgedächtnis hatte, behandelte er mich als Teil seiner Entourage und nicht als lästigen Boulevardreporter –, nicht etwa Zeichen seiner Wertschätzung war, sondern Teil seines normalen Sozialverhaltens. Er weihte jeden noch so flüchtigen Bekannten in alles Mögliche ein – gesetzt den Fall, der war ihm irgendwie nützlich oderkönnte es werden. Trug ihm jemand seine Sorgen vor, zeigte Müller in den ersten fünf Minuten eine lebhafte Aufmerksamkeit, von der man schwer sagen konnte, ob sie echt oder vorgetäuscht war, dann wurde sein Gesicht schläfrig, das Kinn sank auf die Brust, er begann in immer größeren Intervallen zustimmend zu nicken. Nach exakt zehn Minuten trat die Businessbiene mahnend ins Zimmer, so dass sich der Besucher eilig verabschiedete. War Müller für einige Minuten frei, so naschte er aus seiner Pillendose und vergaß auch nie, mir etwas anzubieten, was ich jedoch ablehnte.
Am meisten beeindruckte mich Müllers Telefonat mit dem Polizeipräsidenten – er bot dessen Tochter eine Nebenrolle im Tausch gegen drei Knöllchen an. Aber das schien nur das Vorspiel zu sein. Mitten in der Abschiedsfloskel ließ Müller fallen, dass der Polizeipräsident ihn doch bitte vorerst mit diesen Kommissaren verschonen möge, die ihn verhören wollten, er wisse schon zu welchem Thema. Er werde demnächst das besagte Gutachten vorlegen.
»Dabei ist die Tochter potthässlich!«, seufzte er, als er aufgelegt hatte.
Müller hatte eine raffinierte Art, Menschen um den Finger zu wickeln. Empört traten sie in sein Büro, beseelt verließen sie es wieder, sogar der hepatitische Herstellungsleiter, den er am frühen Nachmittag feuerte, leuchtete rosig im Gesicht, als er das Zimmer verließ. Er hatte es schon immer geahnt: Er war zu gut für diese Welt! Müller hatte seinen Rauswurf verpackt, als handle es sich dabei um eine Beförderung. Ein Spruch von Stephen King fiel mir ein: »Ich habe das Herz eines kleinen Jungen. Es steht in einem Glas auf meinem Schreibtisch.«
Unwillkürlich griff ich mir an die Brust.
Das jeweilige Anliegen, so komplex er es eben noch behandelt hatte, vergaß Müller in dem Moment, in dem sich die Tür hinter dem Scheidenden schloss. Ein starkes Selbstbewusstsein oder eine kolossale Überlebenstechnik steckte dahinter, ein Rätsel, das ich unbedingt lösen wollte.
Ich beobachtete, wie Müller lächelnd durch seinen Tag mit tausend Entscheidungen pflügte, und meine Bewunderung für ihn wuchs ins Unermessliche. Nachmittags brachte uns die Businessbiene einen Espresso, eine im winzigen Tässchen gereichte kukifarbene Suppe, dick wie Bodensatz, die meinen Puls verdreifachte. Müller jedoch schien sie zu entspannen. Er checkte sein Smartphone, legte mit der Hand ein lahmes Bein über das andere, wippte gemütlich in seinem Rollstuhl zurück, so dass er auf den Hinterrädern balancierte, und fragte: »Welchen Schauspieler würden Sie den Sonnenkönig spielen lassen?«
Es war an diesem Tag bereits viel um den Sonnenkönig gegangen. Müllers neues Kinoprojekt, ein 20-Millionen-Euro-Epos, der Film seines Lebens, wie er immer wieder betonte. Er sagte es zu Frau Ich-bindas-Geld-Mitscherlich von der Filmförderung, die pünktlich um 11 in seinem Büro erschienen und tatsächlich etwas ältlich war, er sagte es dem Herstellungsleiter, kurz bevor er ihn feuerte, er sagte es einem Sponsor, dem Ärztlichen Direktor der Kopfklinik, mit dem wir in einem italienischen Restaurant zu Mittag gegessen hatten, er sagte es zu Frau Meierhanns, die er beharrlich »Fräulein« nannte, und er sagte es mehrfach zu mir.
Ich zauderte. »Den jungen oder den alten?«
»Werden Sie nicht spitzfindig, den Sonnenkönig in der Blüte seiner Jahre, so um die sechzig.« Müller lächelte
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