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Zungenkuesse mit Hyaenen

Zungenkuesse mit Hyaenen

Titel: Zungenkuesse mit Hyaenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Else Buschheuer
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quasi nackt in Müllers Kosmos einzutauchen und alles, was ich für richtig und für falsch hielt, abzuschütteln. War Big Ben überhaupt noch wichtig? Würde ich nicht ebenso gut Unterschlupf finden in Müllers Welt?
    Dichtung und Wahrheit – entschied da nicht das Mischungsverhältnis? Wie war das im Weltkino, in berühmten Filmen, in erfolgreichen Blockbustern? Tatsächlich hatten sich Miloš Formans »Amadeus« oder Ron Howards »Apollo 13« nicht sklavisch an die Fakten gehalten. Da war er, der große Atem, für den ich die Nüstern blähte, aber für den ich nie Luft zu holen gewagt hatte. Ich sog Müllers Aura tief ein, um Mutters Stubenluft aus meinen Lungen zu pressen.
    »Ich bin ein Kerl«, antwortete ich.
    Es klang etwas – gepiepst. Müller sah mich verständnislos an. Er hatte die Frage schon vergessen. In Dingenskirchen, während das schwere Tor sich öffnete, bat ich darum, mich kurz von der Truppe entfernen zu dürfen.
    »Ich möchte mir ein Eis kaufen.«
    »Hört, hört«, sagte Müller, »das Kerlchen möchte sich gern ein Eis kaufen. Hier ...«, er zerrte einen 50-Euro-Schein aus seinem fetten Portemonnaie, »kaufen Sie sich gleich zwei. Aber nicht bekleckern.«
    Ich stieg aus, beschämt sowohl von Müllers Scheckbuchgroßzügigkeit als auch von seinem Spott. Gritli leuchtete schon von weitem. Sie trug ein rotes Top und eine weiße Hose, über der die Orthesen ihre Beine wie Rouladen rollten. Ich freute mich, ihr Gesicht zu sehen, und während ich sie begrüßte – sie forderte nach Art der Schweizer einen dreifachen Wangenkuss und bekam ihn auch –, ging mir meine Situation auf. Ich war der Gefangene, sie die Besucherin, die mir Fluchtwerkzeuge brachte, Lektüre, Ideen, Informationen. Mein Ladekabel hatte sie dabei und meinen Computer, die Gute.
    »Wie läuft es eigentlich mit deiner Verderbung?«, fragte sie. »Kommt ihr voran?«
    »Schleppend«, sagte ich. »Ich widerstehe.«
    »That's my boy!« Sie strahlte.
    Ich führte Gritlis Krücke und skizzierte mit der Spitze den Plot in den Dingenskirchener Dorfsand: Gott (Mutter) und Teufel (Müller) ringen um die Seele Fausts, also um meine.
    Sie lachte: »Und ich bin das Gretchen?«
    »Du bist der Weltgeist. Du bist der Schriftsteller mit dem Klumpfuß. Hör zu, wir haben keine Zeit für Plänkelei. Ich soll bis Mitternacht den ersten Teil der Fortsetzungsgeschichte ›Das geheime Tagebuch der Roten Müllerin‹ schreiben.«
    Gritli sah auf die Uhr und zerrte das Kuvert aus ihrer Tasche.
    »Schaffen wir!«
    »Nicht hier«, sagte ich und sah mich nach verdächtigen Männern im Trenchcoat um. Es war niemand zu sehen. Da stand eine Parkbank, aber ich brauchte einen Tisch, eine Steckdose und etwas Ungestörtheit. Ich trat an die Eisbude. Der Mittagskurier , der mit dem Tod des Cellisten titelte, war offenbar ausverkauft.
    »Gibt es hier im Ort ein Restaurant?«
    Der Eisverkäufer grinste: »Nicht mehr. Im Nachbarort war ein Italiener, der hat Pleite gemacht. Und meine Eisbude war vorher eine Dönerbude, aber Kanaken wollen wir hier nicht.«
    »Ein Café, eine Bar, eine Würstchenbude, irgendwas?«
    »Nix. Nur ein Puff.« Er lachte glucksend. »Wie Sie ja bereits wissen.«
    Ich ging zu Gritli zurück. »Hast du deinen Fünfziger von heut früh noch?«
    »Klar, den und mehr.«
    »Dann gehen wir ins ›Aphrodite‹.«
    »Hey, ist das ein Nachtclub?«, sagte Gritli, als wir vor dem Haus mit den roten Fensterläden standen.
    »Was in der Art«, sagte ich verlegen.
    Ich dachte an die Strip-Bar in »Die Reifeprüfung«, in der die Tänzerin Bommeln herumschleudert, die an ihren Brüsten befestigt sind, an Catherine Deneuve, die in »Belle de Jour« eine gelangweilte Ehefrau spielt, die tagsüber im Puff arbeitet, und an »Erbarmungslos«, wo ein Freier Anna Thompson das Gesicht zerschneidet, als sie ihn seines kleinen Geschlechtsteils wegen auslacht. Letzteres hatte meine sexuellen Hemmungen manifestiert, wenn nicht sogar betoniert. Ich hatte in der Schule nie vor anderen geduscht, und zum Pinkeln hatte ich immer die Kabine benutzt. Nur Gritlis Anwesenheit und die konspirative Arbeit, die wir zu tun hatten, befähigten mich, freiwillig den Klingelknopf eines solchen Etablissements zu drücken.
    Jemand trippelte heran, die Tür öffnete sich. »Bitte?«
    Eine Barbie-Oma stand im Türrahmen. Sie trug, schief auf dem Kopf wie eine kecke Mütze, eine hellblonde Turmperücke à la Brigitte Bardot. An einem ihrer Augenlider zerrte die Erdkraft.
    »Guten Abend,

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