Zungenkuesse mit Hyaenen
Erregung, Ausschweifung, alles, was er hatte, als er noch »zu Fuß« war, und später, als er noch gefragt war, hält er wie einen virtuellen Zügel in der Hand. Er sammelt Telefonnummern hübscher Frauen wie Bierdeckel. Er speichert sie sofort ein, mit Namen und Gedächtnisstütze (roter Rock, schwarze Mähne).
Müllers wirklich große, unabhängige Zeit hat mit der Erfindung des mobilen Telefons begonnen. Jenseits davon ist er altmodisch, aber das Funktelefon wird für ihn unentbehrlich. Nun kann er Fäden spinnen, beruflich und privat, ohne auf die Unterstützung Dritter angewiesen zu sein. Endlich gibt es ein Medium für seine Schnelligkeit. Er trifft mitten ins Herz, mitten ins Hirn. Sein Handy, später das Smartphone, wird Teil seines Körpers, genau wie der Rollstuhl. Er geht nicht ohne ins Bad, ins Bett, ins Büro.
Einer neuen Dame, egal wie flüchtig die Bekanntschaft ist, schickt er stets sofort eine SMS, um anzudocken. Hierfür hat er sein Standardrepertoire an Gedichten in bekömmliche Häppchen zerlegt. Nun ist natürlich nicht jedes Gedicht für jede Frau tauglich, da ist Müller flexibel. »Und Engel treten leise aus den blauen / Augen der Liebenden, die sanfter leiden« (Trakl, 80 Zeichen) war etwa für eine junge Studentin geeignet, an eine verheiratete Friseurin allerdings verschossen. Die freute sich, wenn Müller sie vertrösten muss, über Mörike: »Träne auf Träne dann / Stürzet hernieder / So kommt der Tag heran / O ging er wieder!« (85 Zeichen). Bei üppigeren Damen kann Müller gut mit Benns »Blauer Stunde« punkten: »Du bist so weich, du gibst von etwas Kunde / von einem Glück aus Sinken und Gefahr« (83 Zeichen). Überhaupt war Benn ergiebig. Die Müllerin hatte seine knappen lakonischen Zustandsbeschreibungen geliebt: »Er raucht, sie dreht die Ringe«, oder: »Schon ein Geruch kann mancherlei entkräften«, oder: »Wie weit darfst du dein Ich betreiben?« Auch ältere Semester waren durchaus von einem gesimsten »Und eine Schale später Rosen – du!« entzückt. Hochgeeignet fürfast alle Frauen, vor allem für die störrischen, ist Benns Satz, dass Männer von Frauen nicht am Gehirn berührt werden wollen, »sondern ganz woanders«. Müller hat erfreut zur Kenntnis nehmen können, dass auf diesem Weg applizierte Gedichte einen tieferen Punkt in Frauen berühren, so dass sie bereits erobert sind, wenn sie wenig später vor ihm stehen. Eine berühmte Schauspielerin, die allen Männern Körbe gab, wurde Wachs in Müllers Händen, nachdem er ihr simste: »Ein Blitz, dann Nacht! – Du Schöne, mir verloren. Durch deren Blick ich jählings neu geboren. Werd in der Ewigkeit ich dich erst wiedersehn?« (Baudelaire, 140 Zeichen).
Müllers Fazit: Gedichte kommen prima bei Weibern an, sogar bei blöden.
Er hält seine Affären absichtlich kurz, weil ihm nach mindestens zwei Wochen die Verse ausgehen. Das scheint ihm einfacher, als den Zitateschatz aufzustocken.
Er sendet und empfängt ohne Umschweife, wie ein Funkturm, ohne Rücksicht auf Uhrzeit und Tag. Einen Gruß. Eine Andeutung. Ein Versprechen. Eine Einladung. Keine zehn Minuten vergehen, ohne dass er auf das Display schaut, seine Verbindung zur Welt.
Es kann passieren, dass er an einem Abend mit ein bis zwei Dutzend Frauen SMS tauscht, teils sehnsuchtsvoll, teils geistreich, teils frivol. Das Smartphone liegt wie ein Wachhund neben ihm im Bett. Wie süß das Piepen ist, wenn eine erotische Rohrpost zurückkehrt, wenn eine der Frauen antwortet, egal was, egal welche, alt, jung, schon benutzt oder frisch, er will sie alle.
MÜLLERS BÜRO
Müllers Firma mit dem selbstironischen Namen »Wheelchair Productions« befand sich in den oberen Stockwerken des Rizzer Berggrün-Hotels, das zwar nur halb so groß wie der Leuchtturm, dafür aber wesentlich prunkvoller war. Man munkelte, dass es Müller gehörte.
»Hubschrauberlandeplatz auf dem Dach«, sagte Müller, als wir uns dem asymmetrisch gebauten Glashaus näherten, »großes Kino darunter – und ein Schwerlastaufzug für PKW, wir können praktisch direkt in mein Büro fahren.«
Tatsächlich steuerte Pilz samt BMW in einen Aufzug. Wir glitten nach oben, und ich verspürte das erhabene Gefühl, als Auserwählter in der Arche Noah zu sitzen – oder, besser noch, im Raumschiff Enterprise.
Als der Aufzug im zehnten Stock hielt, fuhr Pilz in eine Garage hinein und drückte auf einen Knopf. Ein Greifarm schwenkte hinein, der einen Rollstuhl hielt.
»Opa, hupf!«, feuerte Müller
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