Zungenkuesse mit Hyaenen
wieder arm sein. Wir passen zusammen. Wir haben einander verdient. Uns ist nichts Menschliches fremd. Wir sind durch und durch libertin. Wir lachen und fressen und ficken und saufen. Mit M. »Im Reich der Sinne« gesehen. Jetzt erst verstanden, was Wedekinds Lulu meint, wenn sie sagt: »Ich träume davon, einem Triebtäter in die Hände zu fallen.«
M.: Deine Generation hat keinen Begriff von Sünde. Macht doch nicht Schweinerei ohne Protest mit! Ziert euch mehr! Wer will schon offene Türen einrennen?
Ich: Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.
Das unterschied uns, die Rote Müllerin und mich. Ich hatte durchaus einen Begriff von Sünde. Mutter war eine große Sündenaufzählerin und Sündenbekämpferin gewesen. Kleine Sünden hatte sie mit der Rute bestraft, große unter Einsatz von Leib und Leben von mir ferngehalten. Nur an Gedankensünden hatte sie nie herangekonnt. Aber die Verwerflichkeit meiner sexuellen Phantasien, meiner Onanie, meiner pornographischen Exkurse im Internet war mir in jeder Sekunde bewusst gewesen. Eine pikante Mischung aus Schuld und Gier aufs Verbotene hatte meine Kindheit und meine Jugend begleitet, und die Sünde, Mutter verlassen und das Los des Rabensohns gewählt zu haben, lastete tonnenschwer auf mir. Meine Keuschheit war alles, was ich noch hatte, andererseits, Big Ben sagte immer, wenn du einen Preis bezahlen musst, dann bezahlst du ihn eben. Die Art, in der die Müllerin so beiläufig und erstaunt über Sünde schrieb, zog meinen Brustkorb zusammen, und ich spürte ihre und meine Verlorenheit wie eine gemeinsame, wie zwei Seiten einer Medaille.
M. denkt nur in Hülsen. Er sagt immer dieselben Worte, er bewegt sich argumentativ in vertrauten Bahnen. Er benutzt die Sprache wie seinen Rollstuhl, er fährt nicht in wackeliges Terrain. Er stilisiert sich, sein Deckenspiegel, seine Goldknopfblazer, seine Cohibas, sein Hang zu Nutten. Wir machen regelmäßig Orgien, so wie andere Leute Doppelkopf spielen. Manchmal bezieht er Bendix ein oder Teuben, Leute, die mir im Normalbetrieb nicht mal die Hand geben dürften. Ich habe gelernt, mich weitgehend von mir abzuspalten, wenn seine Vasallen mich befingern. M.s Erotomanie ist ein Anficken gegen den Tod, wir machen alle gute Miene zum bösen Spiel, wir müssen »es hinter uns bringen«, wie M. gerne sagt, und uns alle innerhalb unserer Illusion, innerhalb unserer Affirmationen bewegen, geil tun, Rollen spielen, trinken, viel trinken: Ich bin freizügig, ich hab Spaß, ich trinke Champagner und mache Orgien etc. pp..
By the way: Mein Buch ist erschienen und verkauft sich rasend.
Ich notierte »2003?« und dachte an Müllers Gästezimmer, an Müllers Dachboden, wo Tausende Exemplare des sogenannten Bestsellers der sogenannten Bestsellerautorin verstaubten. Wie unendlich traurig! »Verkauft sich rasend«, hatte sie geschrieben. Müller hatte für den rasenden Abkauf gesorgt, er hat sie gemacht, er persönlich hat seine Geliebte auf die Bestsellerliste geschossen. Heimlich offenbar. Ob sie es gemerkt hat, ob sie jemals den Vorhang im Gästezimmer geöffnet, ob sie jemals den Dachboden betreten hat? Ob ihr bewusst gewesen war, dass sie und Hanna ein schlechtes Buch geschrieben hatten, das niemand brauchte, das niemand wollte? Ob sie wütend gewesen war, verletzt, gerührt? In »Citizen Kane« hatte Charles Foster Kane für seine Frau, eine vollkommen unbegabte Opernsängerin, ein ganzes Opernhaus gebaut und die schauderhaften Vorstellungen in seinen Blättern hochgejubelt. Eine rührende Ungeheuerlichkeit. Kane hatte aus einem Piepmatz einen Opernstar gemacht und Müller aus einem ruhmsüchtigen Rotschopf eine Bestsellerautorin. Hier war der erste Teil meiner Geschichte. Ich würde sie erzählen wie ein Märchen: »Es war einmal ein Mädchen, das träumte vom Ruhm.«
Ich wollte seine Macht, seinen Glanz, seine Verbindungen. Aber jetzt sind wir jeden Mittwoch zusammen, und wir sind es gern. Wir streiten, machen Sauereien, anerkennen des anderen Gescheitheit. M.s Hausdrachen sieht diese Entwicklung mit Sorge. Sie kommt morgens ins Haus, räumt die Spuren der Partys weg, macht das Frühstück, kocht und putzt, sie serviert Drinks, kauft ein und spricht wenig. Arme Sau eigentlich. M. bewegt sich in ihrer Anwesenheit, als sei er allein. Überhaupt sind ständig irgendwelche Leute da, eine gewaltige Entourage wie die eines Königs. Alles Schmarotzer, ich auch.
Ich überblättere einige Seiten, um der Gegenwart näher zu kommen, und bleibe
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