Zungenkuesse mit Hyaenen
Diskrepanz zwischen der Führungspersönlichkeit mit Aktentasche, Schlips, Aftershave, gönnerhaft-jovialem Chefton (»Schätzchen«) und dem zerrauften, alten, ramponierten Mann im Bett, der weich und warm ist, hingebungsvoll wie ein spielendes Kind, faul wie ein Seeelefant. Er gibt mir kleine Rollen und Schreibarbeiten. Das macht er immer mit seinen Mätressen. Er ist gerissen und charmant. Aber er hat nicht mehr jeden Mittwoch Zeit.
Silvester mit M. – ein Mittwoch! Es war ein rauschendes Fest mit viel Nacktheit und Suff bis zur Besinnungslosigkeit. Um Mitternacht, als wir mit Champagner anstießen, sagte er mir, dass er mir ein unmoralisches Angebot machen wolle. Er sei reich, er reise gern, er feiere gern, und er wolle mich in seinem Leben haben. Ganz unverbindlich, ohne jedes Zugeständnis an Bürgerlichkeit. Ich soll kommen, ich soll gehen, und wir sollten einander die gemeinsamen Stunden unvergesslich machen.
Mit M. im Kino gewesen und einen Werner-Herzog-Film gesehen.
Ich: Der Film hat wenigstens eine eigene Handschrift.
M.:Aber man kann sie nicht entziffern.
Ich googelte und fand heraus, dass der Silvesterabend 2003 und 2008 auf einen Mittwoch gefallen waren. Ich schüttete die letzten Tropfen aus meinem Cocktailglas in meinen Mund. Sie gingen ins Kino. Sie tranken zusammen. Sie feierten Silvester. Sie waren ein Paar, das leugnete, eines zu sein. Es gab viele Geschichten, die ich erzählen konnte: eine Liebesgeschichte, eine Skandalgeschichte, eine Aufsteigergeschichte mit tödlichem Ausgang ...
Ich sehe M. mit anderen Frauen und lächele und trinke. Ich trinke in Gesellschaft, in angenehmer und unangenehmer, in langweiliger und in anregender, ich trinke zu Hause, beim Telefonieren, beim Rauchen, beim Schreiben und draußen auf Dinners, Partys und Empfängen sowieso.
M. sagt, ich soll ein Buch namens »Untergang des Römischen Reiches« lesen. Ich frage, ob er den Fassbinder-Film mit Karlheinz Böhm und Margit Carstensen kennt, wo Böhm Carstensen zwingt, ein Buch über Betonmischverfahren zu lesen, damit er sich mit ihr unterhalten kann. M. fragt, ob ich ihn zwingen will, diesen Film zu sehen, damit ich mich mit ihm unterhalten kann. Wir verwerfen die Idee, dass er den Film schaut und ich im Gegenzug das Buch lese. Lieber unterhalten wir uns gar nicht. Bleib mir weg mit der Kunstkacke. – Bleib mir weg mit Marcus Aurelius.
Der Schnitt seiner Augen, die Art, wie er die Augenbrauen hochzieht. Das Lächeln, das totbeißen kann. Das Runterspielen von Bedeutsamem, Wesentlichem.
Einen Streit wünscht er sich aggressiv und auf hohem Niveau. Er wählt die Themen nach Belieben, dabei favorisiert er Treue, Sünde, Krieg und Macht. Gern spricht er darüber, was er geworden wäre, wenn er den Autounfall nicht gehabt hätte. Sein Pilotentraum. Sein Soldatentraum. Sein Kardinalstraum. Sein Zuhältertraum. Obwohl es eher erstaunlich ist, dass wir reden. Dass Frauen auch Partner sein können, Gesprächspartner, Problempartner, Lachpartner, Lebenspartner, das ist in M.s Art, die Welt anzuschauen, nicht vorgesehen. Er ist ein Gorilla im Jahr des Gorillas. Für ihn ist eine Frau Objekt. Er sucht sie sich aus wie eine Krawatte, ein Parfüm, einen Schuh. Und dann bezahlt er.
Ich googelte das Jahr des Gorillas. Es war 2009 von den Vereinten Nationen ausgerufen worden. So hatte ich einen zeitlichen Anhaltspunkt in den undatierten Notizen der Müllerin. Ich müsste bei der Mittagskurier -Geschichte nicht chronologisch vorgehen. Ich würde einfach nur liefern, was mir nach Lektüre des Honigbuchs spontan in den Sinn kam, ohne Rücksicht auf Verluste – so sprach ich mir innerlich Mut zu: ohne Rücksicht auf Verluste. Mut war eine vollkommen neue Tugend, an der ich mich probierte. Aber ohne Mut war diese Prüfung nicht zu bestehen.
EINE SCHWEBENDE JUNGFRAU
»Michael!«
Wer rief mich da mit flüsternd leiser Stimme?
»Michael, komm!«
Halluzinierte ich? »Was ist denn?«
»Komm!«
Ich ging der Stimme nach.
»Komm!«
Ich lief über den Flur, stieß zwei angelehnte Türen auf, kam in das Dämmerlicht eines Boudoirs, in dem sich Liegemöbel und Kleiderständer befanden. Auf einem Fernsehschirm flimmerte lautlos ein Film, eine Frau versenkte ein männliches Geschlechtsteil komplett in ihrem Kopf.
»Was ist das?«, fragte ich.
»Deep Throat«, säuselte es. »Hier! Komm hierher!«
Auf einer mit Satin bezogenen Liege sah ich eine Gestalt. Sie saß aufgestützt, mit herausgestreckten Brüsten und roten Locken. Sie
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