Zungenkuesse mit Hyaenen
Schwelle. Sie bleiben mit den kleinen Vorderrädern an der Schwelle hängen, dann fällt M. nach vorn. Er behauptet später, sie habe ihn mutwillig aus dem Rollstuhl gekippt, aber sie war nur fahrig und gedemütigt gewesen, und er war einfach nur gefallen. Da liegt er hilflos kopfüber auf dem Beton ihres Balkonbodens, der Kopf blutet, und sein linkes Bein wirkt seltsam abgeknickt.
Es ist vorbei, denkt Müller, bevor er ohnmächtig wird. Jetzt ist es vorbei. Es ist ja nicht so, dass er wie früher nach dem Trial-Error-Prinzip mit dem Rollstuhl umkippt, den Rollstuhl im Liegen wieder aufrichtet, die Armstützen packt und sich, mit einer Koppelung aus Liegestütz und bodenturnerischer Drehung, wieder hineinschwingt. Es ist nicht mehr so, dass außer einem Kratzer, einem blauen Fleck, einem Schreck nichts zurückbleibt. Seine gelähmte Körperhälfte ist mittlerweile zerbrechlich wie Porzellan. Es ist so, dass er inzwischen höllisch aufpassen muss, nicht zu fallen. Dass jeder Fall sein letzter sein könnte, der, von dem er sich nie mehr erholt. Dass, wenn er fällt, seine Knochen wie Salzstangen brechen. Und dass das ein Grund mehr ist, permanent in Gretchen-Stimmung zu sein. Jedes Gretchen könnte das letzte sein.
Sie vergisst das nicht. Wie sie schreckstarr auf die liegende Gestalt vor dem Rollstuhl schaut. Ihre dünnen Arme hängen tatenlos herunter. Sie hat ihn in ihre tückische Höhle gelockt, sie hat nicht aufgepasst, sie ist schuld. Er geht so leicht kaputt, sie weiß es doch, und sie will ja nicht, dass er kaputtgeht. Oft schon hat sie die Phantasie gehabt, ihm eine runterzuhauen, wenn er seine aalglatten Bonmots absondert, wenn er, mit hochmütigem Gesichtsausdruck, Kisch und Kerr als »überschätzt« bezeichnet oder die Gedichte von Ingeborg Bachmann und Mascha Kaléko als »ehrliche, tief empfundene Kaufmannsverse«, wenn er Nazi- und Chauvi-Sprüche drischt, vor allem aber, wenn er hinterherschickt: »Tief im Innern weißt du doch, dass ich recht habe.«
In der Gewaltphantasie schlägt sie ihm mit der Faust mitten ins Gesicht, aber man kann ja nicht, nur weil einem die Argumente ausgehen, nur weil man zur Liebe verdammt ist, einen Schwerstbehinderten zusammenschlagen, noch dazu einen, der einem nahesteht, so nahe wie irgend möglich. Immer, wenn sie also feststellt, dass sie ihn nicht schlagen kann, aus mehreren Gründen nicht schlagen kann,pinkelt sie auf seine Terrasse. Müller nennt die Terrasse seitdem »Erinnyenklo«.
Da liegt er. Auf ihrem unseligen Balkon. Und zwar in keiner Haltung, die auch nur im Geringsten ein »Vielleicht ist ja nichts passiert« rechtfertigen würde. Wenn sich um den Kopf eine schwarzrote, immer größer werdende Pfütze sammelt, wenn ein Bein aussieht wie ein Zorro-Z, dann ist was passiert, etwas sehr, sehr Schlimmes. Und wenn der Verletzte nicht einmal schreit, dann ist die Katastrophe da.
Die Müllerin ruft die Ambulanz. Schon Minuten später treffen Sanitäter ein. Sie heben den verletzten Löwen, den schweren Leithammel, den gefallenen König, der besser auf seine Instinkte hätte hören sollen, mit dem Schlachtruf »Zu-gleich!« auf die Trage, stillen die Blutung, hängen ihn an einen Tropf, sortieren das weich gewordene Bein, so gut es geht, aber es knickt dort, wo Beine mit Sicherheit keine Gelenke haben.
Ich bin mit ins Krankenhaus gefahren, ich hab niemanden angerufen, diese Sache geht nur uns beide etwas an. Niemand soll es wissen. Schädelprellung mit Amnesie, großer Blutverlust mit Transfusion, Beinbruch, Armbruch, Dekubitus. Er ist kurz aufgewacht, hat mich nicht erkannt und gesagt, ich solle die Gräfin benachrichtigen.
Heut stand plötzlich die alte Lydia im Zimmer. Puvogel hat sie angerufen. Sie steht vor mir, die alte, fette Nutte, und sagt, ich soll gehen. Sie sagt immer wieder, ich soll gehen. Sie hält mir ihren Ausweis hin, und da steht Lydia Müller, Lydia Müller, geborene Schadt. Sie sagt, sie ist seine Ehefrau. Ich solle gehen, ich sei nur ein Zeitvertreib, aber sie sei für Unglücksfälle zuständig. Sie sei schon für Unglücksfälle zuständig gewesen, als ich noch auf den Müllplätzen der Slums gespielt habe. Das hat sie gesagt: auf den Müllplätzen der Slums. Ist sie seine Ehefrau? M. hat eine Ehefrau? Sie hat mich am Kragen gepackt. Ich hab sie an den Haaren gezogen und hielt eine Perücke in der Hand. Die Alte stand vor mir, mit dünnen, fusseligen Omahaaren. Ich hab sie rausgeworfen, die Perücke hinterher.
»Lydia?«, rief ich.
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