Zungenkuesse mit Hyaenen
seine Impulse ihn zufällig und sinnlos mal in die eine, mal in die andere Richtung reißen. Die Welt ist schlecht, und er ist ein Teil davon. Es gibt für Müller nichts Diffamierenderes als den Vorwurf, ein guter Mensch zu sein. Lieber würde er der Niedertracht verdächtigt als der Güte. Außer natürlich, er bezeichnet sich selbst in Weinlaune als guten Menschen, weil er Nutten Trinkgeld gibt oder beischlafwilligen Schauspielerinnen einen Job, weil er den alten Nachbarhund bedauert oder weil er, aus einer Laune heraus, einer Frau ein Kompliment macht, OBWOHL sie hässlich ist. Innere Werte schätzt er nicht, im Gegenteil, er schüttet ätzenden Spott über sie aus. Er spuckt Begriffe wie »Güte«, »Tugend«, »Gutsein« aus dem Mund wie faule Nüsse. Nur selten schämt sich Müller seiner Gefühllosigkeit. Alle auftretenden Probleme löst er mit Geld. Keine Hiobsbotschaft kann ihn davon abhalten, den Abend möglichst angenehm zu verbringen.
Von anderen Seiten hört Herr Müller, dass es das Schlimmste sei, wenn die Freunde stürben. Er selbst empfindet den Tod der Menschen, die ihm nahestehen, nicht als schlimm. Im Gegenteil, er freut sich bei jedem, dass nicht er es ist, den der Tod geholt hat, vor allem, wenn er demselben Jahrgang entstammt, dem 50er Jahrgang.
Wann immer einer seiner Weggefährten eine hässliche Frau heiratet, erkrankt oder pensioniert wird, freut sich Müller. Er freut sich nicht direkt am Elend der anderen, sondern daran, dass es nicht das seine ist. Er reibt sich innerlich die Hände, macht eine Flasche Champagner auf und lächelt sein grimmiges Lächeln, das zubeißen will.
Er ist querschnittsgelähmt, aber auf eine gespenstische Weise ist er besser dran. Er ist vorsichtiger. Er springt dem Schicksal von der Schippe. Vielleicht hat sein Schutzengel etwas gutzumachen. Müller lebt weiter, immer weiter, wie der Mann aus dem Buch von Simone de Beauvoir. Und wäre da nicht die Angst davor, dass auch er sterben könnte, wären da nicht seine unerhörten Gebete um ewige Jugend, dann wäre er der glücklichste Mann auf der Welt.
Zu sterben wäre das Allerschlimmste, dicht gefolgt von Krebs. Dann kommt gleich die Vorstellung, verheiratet zu sein – sie teilt sich den dritten Platz mit Lebendig-begraben-Sein. Sie bedeutet dasselbe. Müllers Ehescheu hat fast etwas Religiöses. Und er nimmt nur Geschichten wahr, die ihr Nahrung geben.
Sosehr er Krankheit hasst, so sehr liebt er Beerdigungen. Sie sind für Müller Feiern, meist ist ein lästiger Mensch für immer verstummt. Manchmal ist es einer, der um seine Freundschaft buhlte, manchmal ein Widersacher, ein Feind. In jedem Fall trifft man auf Beerdigungen mondän gekleidete Frauen, atemberaubend sexy in ihrer echten oder vorgetäuschten Trauer. Sie sind Töchter, Enkelinnen, Nichten, sind dritte oder vierte Ehefrauen der Verstorbenen, sie tragen Hüte, ausgeschnittene Kleider, Stöckelschuhe. Sie werfen Rosen aufs Grab, und dabei irrlichtert ihr Blick über die Lebenden. Wer davon ist ein potentieller neuer Partner, zu wem können sie überlaufen, wer würde sie auf Händen tragen? Sie sind hungrig nach Leben, sie wissen wohl, wer er ist, sie suchen seinen Blick, lassen sich von ihm trösten, sind flirtbereit und neugierig. Beerdigungen sind ein Fest, ein Triumph des Lebens, ein Triumph des Überlebens. Hier finden all seine Talente Platz, der Hang zu wohlgesetzten Worten, die Heuchelei, die Koketterie.
Aber nun geht es doch nicht etwa aufs eigene Grab, auf die eigene Beerdigung zu? Er ist doch noch nicht mal sechzig, steht gut im Saft, geht weg wie warme Semmeln!
Gürkchen gibt einmal in der Woche eine Mappe mit Geschäftspapieren ab, Teuben schickt seine Rezepte für M.s Gute-Laune-Pillen an mich, die Niedel hab ich gefeuert, Pilz in den Jahresurlaub geschickt, und Lydia, die alte Puffmutter, drückt sich am Zaun die Nase platt.
Dir ist klar, hat M. lachend gesagt, dass du nun meine Pflegerin bist und dass eine Pflegerin unsexy ist, und ich hab gesagt: Das lass mal meine Sorge sein, Baby.
M. ist seit zehn Tagen im Bett, ich mache Krankenschwesterjobs (Katheter, Darmausleeren, Waschen) und koche das einzige Essen, was ich kochen kann (Spiegelei, Instantsuppe). Es kotzt M. an, dass ich Zeuge seiner Schwäche bin. Die Madame pflege ihn besser, Teuben medikamentiere ihn besser, Niedel koche besser, Gürkchen assistiere besser, Lydia muntere ihn besser auf, alle sind besser.
M.s Stimmung hält sich, obwohl der Gips ab ist. Er ruft nach
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