Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)
geschmiedete Messerschneide durchs Fenster fiel und das Zimmer zerschnitt, traf mich mitten ins Gesicht. Ich drehte mich zur Wand. Der Schwindel nahm an Geschwindigkeit zu, erst allmählich legte er sich wieder. Ich durfte mich nur nicht bewegen. Mein Mund war trocken, mein Hals schmerzte wie zu Beginn einer Erkältung, und dann fiel mir plötzlich ein, daß ich ungezählte Gläser Bier getrunken hatte, vielleicht auch andere Getränke, die ich nicht gezählt hatte, vielleicht sogar Cognac oder anderen Schnaps. Ich, der Alkohol nicht mochte und nicht gewöhnt war, ich, einer jener mineurs , denen Alkohol auszuschenken Aushänge in allen Pariser Lokalen strengstens verboten, hatte unmäßig getrunken. Anders jedenfalls konnte ich mir meinen Zustand nicht erklären. Eine undeutliche Gestalt tauchte auf, die mich in der vergangenen Nacht begleitet hatte. Schlank, groß, um einiges älter als ich. Doch sie nahm keine Kontur an. Sie wurde von anderen verdrängt, die ebenso schemenhaft blieben. Dazu ein paar Satzfetzen, Umrisse von Theken, Tischen, Bars und Flaschen sowie Gerüche, bei deren Erinnerung mir nicht besser wurde. Ich dachte an mein Portemonnaie, war aber unfähig,danach zu greifen, unerreichbar weit entfernt steckte es in meiner linken Hosentasche, sofern man mich nicht bestohlen hatte. Hatte man mich abgeschleppt, um mich zu bestehlen? Wer hatte es nötig, einen Siebzehnjährigen auszurauben? Jeder, der Geld braucht, sagte ich mir, hat es nötig und tut es. Ich drehte mich wieder um, wurde erneut vom Sonnenstrahl geblendet und sah mich nach meiner Hose um, die auf dem Boden lag. Hatte mich mein Begleiter wirklich bestohlen?
Warum sollte er das tun, woher mein Mißtrauen, hatte ich Grund dazu, obwohl ich mich nicht einmal an sein Gesicht erinnern konnte? Ich fürchtete, ich würde mich übergeben, wenn ich auch nur einen weiteren Gedanken an mein Portemonnaie verschwendete, und erst recht, wenn ich aufstand, aber aufstehen konnte ich nicht. Ich schluckte meinen elenden Zustand mitsamt dem Inhalt meines Magens, der nach oben drängte, wieder hinunter. Da lag ich also und erinnerte mich nicht daran, wo ich in der vergangenen Nacht gewesen war.
Ich versuchte zu schlafen.
Kein Schritt, den ich nach dem Abendessen im Le Zimmer getan hatte, ließ sich zurückverfolgen. In welche Richtung war ich gegangen? Kaum über die Seine. Hätte ich mich daran erinnert? Was war auf der anderen Seite der Seine, ich kannte Paris ja kaum? Während der Raum, in dem ich lag, vor- und rückwärts kippte und sich dann wieder seitlich um mich drehte, sah ich schließlich, als sei ich plötzlich stehengeblieben, einen Tresen vor mir, an dem Leute standen, die ihre Gläser hoben und mir oder meinem Begleiter zuprosteten und Dinge riefen, die mich zum Lachen brachten. Jemand sagte: »Dommage« , ein anderer: »Il ne restera rien j’te jure.« Und ein anderer, die Achseln zuckend: »Tant pis!« Und einmal hatte es geklungen, als spreche jemand Deutsch. Hatte mein Gehirn diefranzösischen Worte gespeichert und dann in meine Muttersprache übertragen? Ich schlief wieder ein und schlief tief und lange.
Erst gegen Mittag wachte ich wieder auf. Ich fühlte mich etwas weniger elend. Das Hämmern hatte aufgehört, die Kopfschmerzen waren einem dumpfen Gefühl gähnender Leere gewichen. Ich betrachtete das wenige, was ich sah, von weitem. Das war nicht unangenehm. Ich fühlte mich zwar nicht frisch, jedoch mit meiner beunruhigenden Absenz versöhnt. So ist Paris, sagte ich mir und wollte bald aufstehen. Ich würde mir in einer Apotheke Alka Seltzer besorgen und zwei Tabletten nehmen.
Doch dann blieb ich fast den ganzen Tag im Bett liegen. Abends aß ich eine Kleinigkeit in einem Bistro in der Rue de Rivoli. Ich sagte nicht nein, als der Kellner mich fragte, ob ich ein Glas Wein trinken wolle. Nur ein Glas. Danach ging ich früh zu Bett. Der Alkohol hatte kaum gewirkt. Ich war nur müde. Keine Nachricht erwartete mich im Hotel, kein Zettel unter meiner Tür. Offenbar wußte mein Begleiter nicht, wo ich wohnte, oder er hatte das Interesse an mir verloren. Ich hatte stundenlang nicht an meinen Vater gedacht. Ausgehöhlt, wie ich mich fühlte, war ich nun besser für den Besuch bei André gerüstet.
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IV
Um zehn Uhr früh am nächsten Morgen trat ich aus dem Gare St. Lazare. Ich orientierte mich kurz und wandte mich dann nach rechts. Es nieselte, und bald wurde der Regen dichter. Da ich keinen Regenschirm dabeihatte, ging ich den
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