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Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)

Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Zur falschen Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alain Claude Sulzer
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sich in einem roten Kleid mit tiefem Einblick in ihren fein gefältelten Ausschnitt zeigte, und ich nickte. Sie meinte es ernst und zugleich nicht allzu ernst, es war eine Floskel, sie kannte ihre Gäste, die kamen nicht nach Paris, um sich vor ihren Fernseher zu setzen und ihren Haushalt näher kennenzulernen. Mein Paß interessierte sie nicht. Den Delormes genügten die Anzahlung und mein Gesicht. Im Mittelpunkt ihrer Welt stand der Fernseher, und diesen Mittelpunkt ließen sie, sofern ich das beurteilen konnte, nie aus den Augen, sie verließen die Wohnung jeweils nur für kurze Zeit, aber nie gemeinsam. Der Fernseher lief, solange gesendet wurde, Punkt zehn Uhr wurde leiser gestellt. Sie hatten keine Kinder, oder diese waren schon aus dem Haus. Sie erwähnten aber nichts dergleichen. Ach ja, und sie servierten kein Frühstück, darauf hatte Monsieur ausdrücklich hingewiesen, als ich ihn nach einer Unterkunft fragte, »Désolé, nous ne servons pas le petit dé jeuner« .
    Nachdem ich meine Sachen verstaut und mich wieder aufsBett gelegt hatte, schlief ich sofort ein und wachte erst gegen sechs Uhr auf. Ich sah mich im Oval des Spiegels, der in den Schrank eingelassen war. Ich stand auf, stellte mich ans offene Fenster, das auf die Dächer der Nachbarhäuser ging, und zündete mir eine Zigarette an. Die Aussicht war beeindruckend und verwirrend. Das Durcheinander aus Fenstern und Dächern, Kaminen und Fernsehantennen, auf das ich blickte, blieb undurchschaubar.
    Zum ersten Mal in meinem Leben aß ich am Abend allein in einem Restaurant. Die Brasserie Le Zimmer an der Place du Châtelet war so gut besucht, daß sie selbst jenen Passanten nicht entgehen konnte, die durch andere Eindrücke abgelenkt wurden. Im und vor dem Eckhaus herrschte Hochbetrieb, sämtliche Sitzplätze auf der Terrasse waren belegt, geschäftige Kellner eilten mit vollen Tabletts hin und her. Ein Blick auf die Speisekarte, die draußen in einem Glaskasten aushing, zeigte mir, daß ich es mir leisten konnte, hier zu essen, also betrat ich das Lokal und wartete, bis man mir einen Tisch zuwies. Ich bestellte eines der drei Menüs, das günstigste, man servierte mir eine Gemüseterrine, ein Gänsekeulenconfit mit Sauerkraut, Käse und Dessert. Wortlos stellte man mir eine Karaffe kaltes Wasser hin, nachdem ich die Frage, ob ich Wein wollte, verneint hatte. Ich trank das Wasser aus einem kleinen Weinglas. Alkohol schmeckte mir nicht, und, anders als heute, brauchte ich ihn weder zur Ablenkung noch zur Entspannung.
    Obwohl Mathematik nicht zu meinen Leidenschaften gehörte, versuchte ich mir auszurechnen, wie oft ich mit dem Geld, das ich abgehoben hatte, an Orten wie diesem essen könnte, bevor es ausgegeben war.
    Wenn ich hin und wieder von meinem Teller aufblickte, entging mir nicht, daß ich beobachtet wurde. Doch fiel ichden Gästen offenbar erst auf, wenn sie saßen. Je länger sie saßen und je mehr Zeit und Muße sie hatten, sich umzusehen, desto öfter blieben ihre Blicke an mir hängen, an einem Jugendlichen, der allein in einem Pariser Restaurant saß und still vor sich hin kaute. Worüber der sich wohl Gedanken machte? Ich hatte nichts, hinter dem ich mich hätte verstecken können, weder ein Buch noch eine Zeitung, also sah ich auf meinen Teller oder durch die Leute hindurch, ich versuchte sie zu ignorieren und schaute den Kellnern zu, die flink und blind für alles, was sie von ihrer Arbeit hätte ablenken können, an mir vorbeiflitzten. Ich achtete darauf, ihre Aufmerksamkeit nicht auf mich zu ziehen, ich wollte weder bezahlen noch gehen. Es gab mehr Paare als Familien, mehr ältere als junge Gäste. Irgendwann setzte sich eine Mutter mit zwei Kindern an den Nebentisch. Sie beachtete mich kaum, sah zu mir hin, ohne meinen Gruß zu beantworten, und schien mich dann zu vergessen. Unwillkürlich fiel mir das Fischerdorf Vernazza in den Cinque Terre ein, wo meine Eltern und ich in diesem Jahr die Sommerferien verbracht hatten, und ich erinnerte mich an die eigenartige Unruhe, in die der Anblick der beiden Männer meine Mutter versetzt hatte, die sich eines Mittags im Speisesaal unseres Hotels niedergelassen hatten.
    Während die Mutter mich nicht zu bemerken schien, sahen ihre beiden Töchter immer wieder neugierig zu mir herüber. Aus welchem Grund sie eines der beiden Mädchen zurechtwies, verstand ich nicht, sie sprach viel zu schnell.
    Am übernächsten Tag hatten wir Vernazza verlassen, zwei Tage früher als ursprünglich geplant.

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