Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)
helles Zifferblatt ein fast gleichwertiges, wenn auch vergleichsweise unbedeutendes Pendant zum Gesicht bildete. Anders als bei einem Paßfoto wurde hier nicht das Signifikante, sondern eine Persönlichkeit hervorgehoben. Das alles hatte ich bislang übersehen, an jenem Mittwochnachmittag aber traf es mich mit voller Wucht.
Ein Fotograf hatte sich entschieden, die Linse zu öffnen und zuschnappen zu lassen. Er hatte das Bild entwickelt und fixiert. Auf Fotopapier gebannt, hatte man es hinter Glasin einen Holzrahmen gesteckt, der so aussah, als habe es ihn schon lange vor meiner Geburt gegeben, als er mit seinen vier gewölbten Holzärmchen noch ein Aquarell oder eine Stickerei umfaßt hatte. Nun bewahrte er das Bild meines Vaters für die Nachwelt auf. Ich war die Nachwelt.
Wie viele Jahre hatte dieses Foto dort gestanden, ohne daß ich es eines Blickes gewürdigt hatte, wie viele tausend Male war ich, seitdem ich dieses Zimmer bezogen hatte, achtlos daran vorbeigegangen, wie wenig fehlte, und ich hätte das Bild an irgendeinem Ort verstaut und vergessen. Doch plötzlich war das Foto meines Vaters nicht mehr so belanglos wie der Stoffteddybär, der ebenfalls im Bücherregal stand und dem einst meine uneingeschränkte Zuneigung und Aufmerksamkeit gehört hatten. Ohnmächtig winkte er mir jetzt mit seinen fast haarlosen Tatzen aus einer anderen Welt zu. Während ich mich aber des salzigen Geschmacks entsinnen konnte, den seine Filzohren auf meiner Zunge hinterlassen hatten, wenn ich darauf herumkaute, weckte der Abgebildete keine Erinnerung, weder an einen Geruch noch an eine Berührung. Das Foto war ohne Anfang und Ende. An jenem Mittwochnachmittag aber zeigte es mir etwas, was ich nicht kannte. Ich spürte den Verlust eines Menschen, dem ich nie begegnet war. Vielleicht hatte ich siebzehn Jahre alt werden müssen, um darauf zu stoßen, mit sechzehn hatte ich es nicht sehen können, mit achtzehn wäre ich womöglich schon wieder blind dafür gewesen.
Viertel nach sieben. Was für eine ausgefallene Zeit für einen Fototermin, dachte ich und nahm die Fotografie vom Regal. Ich führte sie so dicht vor meine Augen, bis ich gar nichts mehr sah. Das Glas beschlug leicht, als ich es anhauchte. Ich fuhr mit dem Handrücken darüber. Das Gefühl eines großen Verlusts, das ich beim Anblick dieses Bildesempfand, war neu und veränderte meine Wahrnehmung.
Plötzlich sah ich ein anderes Bild und einen anderen Menschen. Plötzlich fühlte ich etwas, was mir bis anhin fremd gewesen war. Daß es so kommen würde, war eine Frage der Zeit, und die Zeit war gekommen, ohne sich lautstark und glanzvoll anzukündigen. Kein Blitz, kein Donner, nur ein Lidschlag. Die Veränderung ging innerhalb kurzer Zeit vor sich, und dennoch hatte ich das Gefühl einer deutlichen Verlangsamung, zunächst auch großer Ruhe.
Ich sah einen Mann, den ich nie zuvor gesehen hatte, einen Mann, der nicht viel älter war als ich, der im Gegensatz zu mir erwachsen war und mir ähnlich sah. Nie zuvor war mir so klar gewesen, daß ich nichts über ihn wußte und daß ich das einzige, was ich von ihm hätte besitzen müssen, nicht besaß: die Uhr auf diesem Foto. Wo war die Omega, wer hatte sie an sich genommen, warum besaß ich sie nicht?
Ich würde nie erfahren, wie der Mann auf dem Foto gesprochen hatte, ob seine Stimme tief oder hoch, entschlossen oder zögerlich, laut oder leise, deutlich oder undeutlich, hell oder dunkel, brüchig oder klangvoll gewesen war. Wozu war sie fähig gewesen? Wozu war er fähig gewesen? Ich konnte ihn nicht sprechen hören, ich würde ihn nie sprechen hören. Daß er nicht sprach hieß nicht, daß er schwieg, und daß ich nichts hörte hieß nicht, daß ich nichts vernahm. Wie hatte ich das Foto so lange vernachlässigen können, warum war ich so lange blind dafür gewesen? Ich stellte den Rahmen ins Regal zurück, ging aber nicht weg, ich wendete mich nicht um, trat lediglich einen Schritt zurück und sah weiter gebannt auf das Foto. Dann legte ich mich aufs Bett. Das Foto behielt ich im Auge. Ich hatte viele Fragen und keine Antworten.
MeineMutter hatte seine Papiere verloren. Einige Wochen vor jenem entscheidenden Mittwoch hatte sich eine der seltenen Gelegenheiten ergeben, über meinen Vater zu sprechen, denen meine Mutter andere Male so geschickt auszuweichen verstand. Ich hatte mich an ihre Ausweichmanöver gewöhnt und redete mir ein, über meinen Vater zu sprechen sei zu schmerzhaft für sie.
Wir hielten uns im Garten
Weitere Kostenlose Bücher