Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)
verletzende Worte für den lange Zeit erfolgreichen, am Ende aber doch vergeblichen Versuch meines Vaters, das Gesicht, das er der Öffentlichkeit zeigen wollte, durch eine Verstellung zu wahren, die sich meiner arglosen Mutter als Instrument bediente.
»Was war schlimmer? Daß er erpreßt wurde oder daß er einen«, sie stockte, aber niemand anders als sie sollte dieses Wort nun aussprechen, »daß er einen Geliebten hatte.« Sie verstummte. Ich hatte den Eindruck, daß nun alles gesagt wäre, daß sie alles gesagt hätte, zumindest alles, woran sie sich nach all den Jahren erinnern konnte.
Dann sagte sie doch noch einen Satz: »Ich mußte ihm nachträglich verzeihen. Ich konnte gar nicht anders.«
Sie streckte die Hand aus, diesmal nicht nach dem ungeöffneten Brief, sondern nach meiner Hand. Sie umfaßte mein Handgelenk und klopfte mit dem Fingernagel, von demdie Farbe abzublättern begann, auf das Glas meiner Uhr, Emils Uhr.
»Schön, daß du die Uhr nun hast.«
Dann schwieg sie. Es war dieses Schweigen, das mich veranlaßte, Andrés Brief in ihrer Gegenwart zu öffnen, vielleicht auch, um mich von all den Enthüllungen abzulenken, mit denen ich soeben konfrontiert worden war und die das Bild meines Vaters so weit vervollständigt hatten, daß mir nun auch seine letzte Handlung schlüssig erschien. Ein Rest Fremdheit und Verständnislosigkeit würde dennoch immer bleiben, und selbst eine Erklärung meines Vaters – die nicht existierte – hätte daran nichts ändern können.
Meine Mutter erschrak heftig, als sie die Fotos sah. Es waren ein Dutzend Bilder, auf denen mein Vater und sein Geliebter zu sehen waren. Hätte ich das gewußt, hätte ich die Fotos vor ihr versteckt. Es war unnötig, daß sie sie sah. Sie hätte sie nie sehen sollen. Sie waren nicht für sie bestimmt. Ich weiß nicht, was sie darauf erkannte, wie tief der Schmerz in ihrem Inneren saß, der sich nun aufbäumte. Sie hielt den Atem an. Sie atmete aus. Aber sie konnte den Blick nicht abwenden.
Ich mußte ihr die Bilder fast gewaltsam entreißen. Hastig steckte ich sie in den Umschlag zurück, ohne sie genau gesehen zu haben. Das tat ich später, als ich allein war. Die Fotos wurden nie mehr erwähnt.
Unser Gespräch im Garten markierte einen Abschluß, der in gewisser Weise so endgültig war wie Emils Tod. Danach sprachen wir kaum noch über ihn. Seine Geschichte existierte, aber er selbst schien sich mit Sebastian davongemacht zu haben. Die näheren Umstände seines Todes blieben mir lange unklar, was ich darüber erfuhr, erfuhr ich nicht von meiner Mutter, die ich nie danach fragte,sondern aus dem Polizeibericht vom 16. August 1954, den ich erst viele Jahre später einsah. Festgehalten habe ich ein paar wenige Dinge, die über den rein forensischen Sachverhalt hinausgingen: Daß Sebastian und Emil das Hotelzimmer in einem Hotel am Stadtrand für zwei Tage gebucht und bezahlt hatten, obwohl sie ihrem Leben bereits am ersten Abend ein Ende setzten. Daß sie, einander zugewandt, eng umschlungen aufgefunden wurden. Sie trugen Pyjamas. Keine Spuren von fremder Gewalteinwirkung. Daß ein kleiner transportabler Dual-Plattenspieler neben ihrem Totenbett stand, auf dem eine Platte mit Auszügen aus Umberto Giordanos Andrea Chénier lag, gesungen von Benjamino Gigli und Maria Caniglia. Ich stellte mir vor, sie drehte sich noch, als man die beiden am 16. August 1954 kurz nach ein Uhr mittags – genauer um 13.05 Uhr – leblos in ihrem Zimmer fand. Und zuletzt: Daß die Uhr, die mein Vater am Arm trug – eine Omega Seamaster Automatik –, Punkt 11.45 Uhr stehengeblieben war, ob nachts oder tagsüber, blieb natürlich ungeklärt.
Laut gerichtsmedizinischem Report war der Tod durch die Einnahme von jeweils mindestens drei Tabletten Medinal erfolgt, der die Einnahme von jeweils einer Tablette des schnell wirksamen Einschlafmittels Evipan vorausgegangen war. Beide verschreibungspflichtigen Medikamente waren seit Emils Aufenthalt in der Nervenklinik Bestandteil seiner Notfallapotheke, wie dessen Ehefrau gegenüber der Polizei bestätigt hatte. Diese lange erfolgreich eingesetzten Barbiturate waren zu jener Zeit durchaus gängige Schlafmittel, die schon bei gering erhöhter Dosis tödlich wirkten.
Ich nahm mir vor, die Fotos, die André von ihm gemacht hatte, zu verbrennen und die Asche auf ihren beiden Gräbern zu verstreuen. Ich nahm es mir vor, doch je älterich wurde, desto weniger behagte mir diese sentimentale Vorstellung, aber sie
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