Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)
Rolands Miene hatte ausgedrückt, daß Frauen Launen hätten, deren Ursachen vielleicht nicht einmal sie selbst durchschauten. Mir blieb eine angenehme Erinnerung an den kleinen Hafen,der sich nach Sonnenuntergang mit hungrigen und durstigen Menschen füllte, die innerhalb kürzester Zeit die Stühle sämtlicher Lokale besetzten und immer lauter wurden, so daß ihre Stimmen, wenn man sich weit genug entfernte, wie eine anhaltende Flutwelle klangen, die erst weit nach Mitternacht abflaute. Obwohl man im Freien saß, hatte ich mich an jenem letzten Abend in Vernazza in Gegenwart meiner Eltern zum erstenmal beengt, in meiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt gefühlt, ich hatte den Eindruck, auch sie würden sich freier fühlen, wenn ich nicht dabei wäre. Ich ahnte, daß dies unser letzter gemeinsamer Urlaub sein würde. Jetzt, in Paris, wurde die Ahnung zur Gewißheit, ich war zu alt, um meine Ferien mit ihnen zu verbringen. In Zukunft würde ich weder mit meiner Mutter noch mit Roland noch mit beiden gemeinsam nach Italien fahren, und gewiß würden sie mich nicht dazu zwingen, vielleicht nicht einmal auffordern, darüber nachzudenken.
Ich bezahlte dreißig Francs, umgerechnet etwa fünfzehn Franken, und gab fünfzehn Prozent Trinkgeld, was, wie ich annahm, mehr als genug war. Man war freundlich und schnell. Würde ich diese Einsamkeit je überwinden, je mit jemand anderem hier speisen? Man nahm das Geld entgegen, bedankte sich knapp, das gefiel mir. Kaum war ich aufgestanden, wurde abgetragen und für die nächsten Gäste neu gedeckt. Während des Essens hatte ich nichts vermißt. Nachdem ich aufgestanden war, wußte ich nicht, was ich mit meiner Zeit anfangen sollte.
Die Luft hatte sich erwärmt. In schmutzige Decken gehüllt, hatten sich die ersten Clochards auf Métroschächten und neben Hauseingängen vor geschlossenen Geschäften zum Schlafen hingelegt. Ich war frei wie sie. Ich war mir beinahe so fremd wie sie mir waren. Für Augenblicke vergaß ich, weshalb ich in Paris war. Während ich voreinem Schaufenster stehenblieb, fragte ich mich, was ich mir eigentlich erhoffte. Mußte ich nicht mit Ergebnissen rechnen, die weitaus beunruhigender waren als meine augenblickliche Unkenntnis? Und was, wenn diese Ergebnisse auf dem Tisch lagen? Was führte ich, einer plötzlichen Laune gehorchend, womöglich gegen mich selbst im Schild? Davon wurde mein Vater ja auch nicht lebendig. Und wenn ich zu keinem Ergebnis gelangte? Wenn ich am Ende meines Abenteuers so wenig wußte wie heute, würde ich dann kampflos aufgeben? Gegen wen kämpfen, wo nicht einmal Windmühlen zu sehen waren? War jetzt nicht der Augenblick, die Dinge auf sich beruhen zu lassen und umzukehren? Warum nicht an diesem Punkt aufhören, morgen den Zug nehmen und vergessen, was mich hierhergeführt hatte, meinen Vater, seinen Schulfreund André, das Foto? Ich ließ mich ziellos treiben und sagte mir, die Entscheidung würde von allein fallen. Ich ging einfach weiter, vorwärts, nordwärts, ostwärts. Es gab keinen triftigen Grund, um diese Zeit mein Hotelzimmer aufzusuchen.
Wenn ich mit meinen Eltern in den Urlaub fuhr, konnte ich mehr oder weniger selbständig darüber entscheiden, wie ich meine Zeit verbrachte, zumindest seit zwei Jahren. Das hatte bei unseren diesjährigen Ferien bedeutet, daß ich nach dem gemeinsamen Abendessen die Wahl zwischen drei Richtungen hatte, Strand, Küstenstraße oder Hafen. Ich kam gar nicht auf die Idee, die hoch gelegene Küstenstraße entlangzugehen, da die nächsten Orte in beiden Richtungen viele Kilometer weit entfernt waren. Ich ging zum Strand oder zum Hafen, meist zum Hafen, wo immer viel los war. Am letzten Abend aber war ich noch einmal zum Strand gegangen, hatte mich in den Sand gesetzt und mich von den Menschen ablenken lassen, die darauf warteten, daß die Sonne unterging. Fast nur unbekannteGesichter außer den beiden Mittagsgästen, die meine Mutter in Unruhe versetzt hatten.
Schweißgebadet wachte ich am nächsten Morgen in meinem Bett im Hotel St. Merry auf, mir war übel, mein Kopf dröhnte, und jede Bewegung beschleunigte meinen Herzschlag. Ich schloß die Augen, doch der Schwindel legte sich nicht. Es dauerte eine Weile, bis ich mich erinnerte, wo ich mich überhaupt befand.
Als ich die Augen wieder öffnete, erkannte ich den Vorhang vor dem Waschbecken und damit auch, wo ich war. Aber was war los? Wann hatte ich meinen letzten klaren Gedanken gefaßt? Ein Sonnenstrahl, der glühend wie eine eben
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