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Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)

Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Zur falschen Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alain Claude Sulzer
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Tür, an der er sich mit einer Hand noch immer festhielt, vor der Nase zugeschlagen hätte? Doch bevor er irgend etwas unternehmen konnte, fragte ich ihn auf Deutsch: »Sind Sie André?« Er war mein Patenonkel, ich hätte ihn auch duzen können.
    Er nickte und starrte mich an.
    Dann wiederholte er leise den Namen meines Vaters, den er auf der zweiten Silbe, französisch, betonte.
    Ich bildete mir ein, hinter ihm einen Schatten wahrzunehmen, jemanden, der vorbeihuschte und in einem angrenzenden Zimmer verschwand. Die Haushälterin, ein Angestellter, ein Kunde oder seine Frau? Dann korrigierte er sich: »Emils Sohn.« Mein Name mußte ihm längst entfallen sein.
    »Ich bin kein Gespenst«, sagte ich. Ich hatte mich bislang nicht für schlagfertig gehalten, nun fand ich, ich sei es doch, und darauf war ich beinahe stolz. André legte seine Hand auf meinen Arm und zog mich leicht am Ärmel in die Wohnung, in eine geräumige ovale Diele, von der mehrere Zimmer abgingen. Die hell gestrichenen, zur Hälfte verglasten Türen waren geschlossen. Facetteschliff, Dutzende kleiner Vierecke. Dennoch gab nur eine den Blick aufden dahinterliegenden Raum frei. Das mußte die Küche sein. In den anderen Zimmern herrschte entweder undurchdringliche Dunkelheit, oder die Türen waren innen mit Stoff zugehängt.
    Er sagte: »Komm herein. Ich habe dich gleich erkannt. Emils Sohn. Den erkenne ich auf den ersten Blick.«
    Er war aus seiner Erstarrung erwacht. Über unseren Köpfen brannte ein riesiger Lüster, der gewiß viel Helligkeit verbreitet hätte, wenn nicht die meisten Glühbirnen defekt gewesen wären. André stieß die Tür ins Schloß und wandte sich mir zu. Bei genauerer Betrachtung machte sich die Tristesse, die mich im Treppenhaus so unangenehm berührt hatte und die sich infolge meiner Aufregung für einige Augenblicke verloren hatte, auch hier bemerkbar, obwohl es in Andrés Wohnung nicht nach Katzen roch und, soviel ich erkennen konnte, auch nicht schmutzig war.
    »Was willst du?«
    Die Frage, die verletzend hätte klingen können, wurde durch den sanften Ton, in dem sie gestellt wurde, abgeschwächt. Ich erklärte sie mir damit, daß er wohl schon lange nicht mehr Deutsch gesprochen hatte. Ich zählte fünf Türen.
    Ich hörte keine Geräusche.
    Die Schritte mußte ich mir eingebildet haben.
    Nichts deutete darauf hin, daß sich hier ein Fotoatelier befand. Kein Wartezimmer, wie man hätte erwarten dürfen. Zwischen zwei Türen stand eine große Standuhr, und irgendwie schien es den Räumlichkeiten angemessen, daß sich das schwere Pendel nicht bewegte. Es stand still wie alles hier. Ein Grab, dachte ich, eine Gruft ohne Sarg, aber wer sagt mir, daß hier keine Toten sind? Viel zu dunkel, um an diesem Ort frei atmen zu können. Unter dem obskuren Leuchter standen Stühle um einen antiken rundenTisch mit messingbeschlagenen Füßen, auf dem ein schwarzer Amor den gespannten Bogen auf die Tür richtete, durch die ich eingetreten war. Auf dem Rumpf des dicken Fischs, auf dem er kauerte, saß der Kopf eines Löwen. Einem Delphin sah er nicht ähnlich. Kein Tageslicht fand seinen Weg hierher. War das Zwielicht Absicht, hatte es etwas mit dem Handwerk zu tun, das André betrieb? War das der Hinweis, der ansonsten fehlte?
    Die Tüte mit dem Foto meines Vaters unter dem Arm, stand ich in der Diele und wartete, daß André etwas tat, etwas sagte, während ich selbst nicht wußte, was ich tun sollte außer warten, bis etwas geschah. Und tatsächlich verlor er plötzlich die Fassung, die er bis dahin bewahrt hatte. Unversehens stürzten die Worte aus ihm heraus.
    »Du siehst aus wie dein Vater. Du siehst aus, wie dein Vater in deinem Alter aussah. Bist du dir darüber im klaren, wie ähnlich ihr euch seid? Wie alt bist du? Wie heißt du? Ich habe deinen Namen vergessen. Du mußt sechzehn, siebzehn sein. Nicht wahr? Wie habe ich ihn manchmal vermißt und ihm nicht verziehen, daß er getan hat, was er getan hat, was er nicht hätte tun dürfen. Man darf das nicht tun, nicht in seinem Alter! Und wenn ich dich jetzt sehe, sehe ich ihn und vermisse ihn wieder. Wir waren gute Freunde, gute Freunde, schwer zu erklären. Schön, daß du gekommen bist. Eine Überraschung, die dir wirklich gelungen ist. Gut ist das. Das hast du richtig gemacht. Ich hatte nicht damit gerechnet. Du hast es gut gemacht. So hätte dein Vater das auch gemacht. Wie aus dem Gesicht geschnitten.«
    »Sie sind mein Patenonkel.«
    Stimmte es etwa nicht? Natürlich

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