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Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)

Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Zur falschen Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alain Claude Sulzer
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Hausmauern entlang, von denen ich mir Schutz vor der durchdringenden Nässe erhoffte. Auf der Rue Saint Lazare herrschte Verkehr, zu Fuß waren nur wenige Leute unterwegs. Es war kaum heller als in der Abenddämmerung, und es hatte seit dem Vortag merklich abgekühlt. Der Herbst kündigte sich an.
    Die Rue Blanche war leicht zu finden. Ich brauchte nicht auf den Stadtplan zu sehen, ich fand sie genau so wieder, wie ich sie mir anhand der Karte eingeprägt hatte. Nachdem ich etwa fünfhundert Meter auf der Rue Saint Lazare gegangen war, überquerte ich die Rue de Clichy und bog dann in die nächste Querstraße nach links ab. Das war die Straße, die ich suchte. Ich hatte nicht damit gerechnet, daß sie leicht anstieg, ich hatte geglaubt, Paris sei durchweg flach. Kein Schild wies darauf hin, woher die Straße ihren Namen hatte. Besonders weiß war sie jedenfalls nicht. Auf dem Kopfsteinpflaster fuhren dreiräderige Lieferwagen vorbei, vereinzelt kamen Frauen mit vollen Taschen vom Einkaufen zurück, es gab in der Nähe wohl einen Markt. Keine Hunde, keine Katzen, keine Clochards und keine Bettler. Jeder schien darauf erpicht, so schnell wie möglich dem Regen zu entkommen, der an Stärkeallmählich zunahm. Jeder außer mir, denn je mehr ich mich der angesteuerten Adresse näherte, desto langsamer wurde ich. Wie langsam konnte ich gehen, ohne aufzufallen? Ich fiel niemandem auf, da niemand Notiz von mir nahm. Meine Bewegungen verhielten sich in umgekehrtem Verhältnis zur Panik, die zunahm, je geringer die Entfernung zur Nummer 53 wurde. Noch dreißig, noch zwanzig, noch zehn Nummern.
    Die Häuser mit den ungeraden Zahlen befanden sich auf der linken Straßenseite. Hier hoffte ich André wiederzufinden, einen Mann, den ich nicht kannte, von dem ich wußte, daß er mich nur als Säugling gesehen hatte. Als beweiskräftiges Erkennungszeichen würde das Foto meines Vaters genügen.
    Ich hatte etwas Geld dabei, Métrofahrkarten, den Plan von Paris. Keinen Schirm. Nichts, woran ich mich festhalten konnte. Ein Päckchen Gauloises, zur Hälfte aufgeraucht. Nur den Wunsch, die Uhr zu besitzen, die mir zustand, das, was von meinem Vater übriggeblieben war. Nicht ich, er war mir etwas schuldig, sagte ich mir. Ich versuchte mir Mut zuzureden, wußte aber nicht, wie das ging.
    War ich zu früh? Ich blickte auf meine Uhr, 10.20 Uhr. Es gab keine Verabredung. Ich machte mich darauf gefaßt, die unangenehmste Überraschung zu sein, die man sich vorstellen konnte. Nirgends ein Lokal, in dem ich noch ein wenig hätte warten können.
    Ich stand vor dem fünfstöckigen Gebäude, und noch bevor mein Blick auf die Hausnummer fiel, sah ich das Messingschild, das an der Außenmauer angebracht war und mir gut leserlich bestätigte, daß der Schulfreund meines Vaters nicht von hier weggezogen war. In diesem Haus wohnte noch immer André Gros, Atelier de Photographie, 1er Etage a droite. Seit dem Tag, an dem ermeinen Vater, wahrscheinlich in diesem Haus, fotografiert hatte, hatte sich das nicht geändert.
    Bevor ich die Straße überquerte, versuchte ich hinter den Fenstern der ersten Etage irgend etwas zu erkennen, was Auskunft über die Bewohner gab, aber ich stellte fest, daß die Vorhänge zugezogen waren. Kein Licht drang nach außen und vermutlich keines nach innen. Alle Fenster im ersten Stock waren geschlossen. Ich wartete.
    Dann überquerte ich die Straße und drückte auf den Türöffner. Das leise Knacken des Schlosses zeigte an, daß ich den rechten Flügel des blauen Tors nur aufzustoßen brauchte. Ich mußte mich dagegenstemmen, denn er war massiv und ging schwer, und betrat die Tordurchfahrt. Im Innenhof befanden sich kleine Ateliers, eine Putzmacherei und ein Laboratorium, doch ich hatte keine Zeit, mich umzusehen, denn kaum war das Tor hinter mir ins Schloß gefallen, öffnete sich eine schmale Tür zu meiner Linken und eine kleine Frau, zweifellos die Concierge des Gebäudes, trat heraus. Sie würde wissen wollen, was ich wollte, wen ich suchte. Ihre Hände, zu kleinen Fäusten geballt, steckten tief in den ausgebeulten Taschen einer grauen, grobmaschigen Strickjacke mit Kupferknöpfen, die schon Jahrzehnte alt sein mußte.
    »On vous attend?«
    »Oui.«
    Sie sah mich ausdruckslos an: »Qui?«
    »Ah, bon « war alles, was sie sagte, nachdem ich André Gros’ Namen genannt hatte. Als sei sie vieles gewöhnt und habe schon vieles gehört und gesehen. Mit ihren kleinen Fäusten, die sie nicht aus den Taschen ihrer Strickjacke

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