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Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)

Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Zur falschen Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alain Claude Sulzer
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nahm, machte sie eine Bewegung zur Glastür gegenüber, hinter der eine geschwungene Treppe in die oberen Stockwerke führte. Ich bedankte mich, obwohl ich wußte, daß das nicht nötig war. Sie wußte, daß ich ein Fremder war.Sie hatte mich noch nie gesehen. Ich sah keine Veranlassung, mich zu verabschieden. Ich fragte mich, weshalb André sein Fotoatelier nicht im Innenhof hatte, mir schien, hier wäre mehr Licht.
    Ich öffnete die sperrige Glastür und betrat den rechten Seitenflügel. Im dunklen Treppenhaus schlug mir der betäubende Geruch nach Katzenpisse, Rauch, Fett, Heizöl und einem Lösungsmittel entgegen. An den Wänden fehlte an vielen Stellen der Putz, feiner Mörtel lag auf der Fußleiste und auf der Treppe. Teile des schmiedeeisernen Geländers waren herausgebrochen. Die Bewohner schien das nicht zu stören. Die Katzen, die ihre Anwesenheit für den Fall ihrer Abwesenheit so deutlich markiert hatten, waren offenbar zu alt oder schon tot, um der Mäuse Herr zu werden, die überall ihre Spuren hinterlassen hatten. Sollte das Treppenreinigen je zu den Pflichten der Concierge gehört haben, so hatte sie sie wohl schon vor Jahren niedergelegt. Ich versuchte, über den Schmutz, den Gestank, die ganze traurige Armseligkeit dieser Umgebung hinwegzusehen.
    Es gelang mir erst, als ich vor Andrés Tür stand. Das Messingschild war mit jenem an der Hausmauer identisch: Hier befand sich André Gros’ Fotoatelier. Auch seine Wohnung wahrscheinlich. Es gab keine zweite Tür, woraus ich schloß, daß die Räume groß genug waren, um als Wohnung und Arbeitsplatz gleichzeitig zu dienen. Obwohl sie nahelag, hatte ich mir bis zu diesem Augenblick die Frage nicht gestellt, ob André verheiratet sei. Wenn er Kinder hatte, mußten sie in meinem Alter sein. In der Schweiz war es üblich, den Mädchennamen der Ehefrau mit dem Namen des Gatten zu verbinden, nicht so in Frankreich. Daß hier nichts weiter als sein Name stand, hatte also nichts zu bedeuten. Ich erwartete weitläufige, hohe Räume jenseits der eindrucksvollen Tür.
    Ichhörte, wie draußen im Hof jemand mit einem Hammer gleichmäßig auf einen Gegenstand klopfte, der nicht allzu widerstandsfähig klang, Leder oder Filz, eine Hutmacherin oder ein Schuster. Wußte die Concierge über die An- und Abwesenheit der einzelnen Hausbewohner Bescheid? Hatte sie den Auftrag, unangemeldete Besucher darüber zu informieren, ob die Mieter zu Hause waren oder nicht, um ihnen sinnlose Gänge und unnötiges Treppensteigen zu ersparen? Stand sie noch vor ihrer Wohnung und zählte die Minuten, die es dauerte, bis ich unverrichteter Dinge wieder vor ihr stehen würde? Ich hatte das Gefühl, daß André nicht zu Hause war, wahrscheinlich wünschte ich es mir insgeheim. Es nicht hinter mich bringen zu müssen. Es zu verschieben. Ich klingelte. Ich würde es hinter mich bringen, ich hatte keine Wahl. Sollte ich das Foto jetzt auspacken, um es ihm gleich hinzuhalten, wenn er öffnete? Wenn er öffnete, dachte ich, würde er mich so lange für einen Kunden halten, wie ich meinen Namen nicht nannte, oder besser den Namen meines Vaters, den ich nicht trug.
    Vielleicht erwartete er einen Kunden, es dauerte jedenfalls nur ein paar Sekunden, bis sich der Schlüssel im Schloß drehte. Das ging so schnell, daß ich nicht einmal Zeit hatte, mir durchs Haar zu fahren und zu überlegen, welche Miene ich aufsetzen sollte. Möglicherweise hatte mich die Concierge telefonisch angemeldet. Die Tür wurde geöffnet. Vor mir stand ein schlanker, fast kahler, großgewachsener Mann, der seine Brille auf der Stirn trug. Er öffnete den Mund. Er erkannte mich sofort. Er nahm die Brille ab.
    »Emil.«
    Er ließ die Hand sinken, die gerade noch auf der Klinke gelegen hatte. Dann hob er sie plötzlich wieder zu den Augen und fuhr mehrmals schnell darüber, als wischte er etwasfort, was ihn störte. Dann setzte er die Brille auf, und seine Augen verschwammen hinter den dicken Gläsern, die sie unnatürlich vergrößerten. Er hatte mich erkannt, weil ich meinem Vater offenbar ähnlicher sah, als mir bewußt war. Das war der Grund seines Erschreckens. Er hatte nicht mit mir gerechnet. Er hatte nicht erwartet, daß es jemanden gab, der die Züge des alten Schulfreundes wie eine Blaupause auf seiner frischen Haut trug. Er hatte Emil erfolgreich aus seinem Gedächtnis gestrichen, und nun stand einer da, der ihm glich, mehr, als ich ahnte.
    Was würde er als nächstes tun? Wie hätte ich reagiert, wenn er mir die

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