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Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)

Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Zur falschen Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alain Claude Sulzer
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nicht einmal versucht. Er hat nie eine Schauspielschule von innen gesehen. Nicht einmal hinter dem Rücken seiner Eltern. Er war kein Feigling, aber es kam mir vor, als blickte er weder nach links noch nach rechts, nur geradeaus. Er ließ hinter sich, was hinter ihm lag, ohne sich umzudrehen. Er war unversehens genau dort hineingeschlittert, wo sie ihn haben wollten, in eine«, er suchte nach dem richtigen Wort, »bürgerliche Existenz. So sah es jedenfalls aus. Sein Schweigen schien anzuschwellen und ihn zu vernichten.
    Ich wurde Fotograf, das war zumindest ein halbwegs künstlerischerBeruf. Ein Beruf, den im Grunde jeder Trottel ausführen kann, doch wer ihn besser versteht und über die nötige Begabung verfügt, kann die Schwelle der reinen Abbildung auch überschreiten. Und das führt dann weit. Mir war es egal, als was man mich betrachtete, als Handwerker oder Künstler. Am liebsten hätte ich sowieso gar nichts getan. Ich amüsierte mich, wo und wie ich konnte. Wir schrieben uns weiterhin, aber sehr unregelmäßig. Wir sahen uns selten, zwei- oder dreimal vor seinem Tod. Immer hier in Paris, ich fuhr nicht mehr in die Schweiz.«
    Es entstand eine Pause, in der wir beide unser Essen nicht anrührten. Zum ersten Mal betrachtete ich André, ohne gleich wegzuschauen, als auch sein Blick auf mir ruhte. Oder hatte er mich zuerst angesehen, und ich hielt seinem Blick stand? Im Licht des Lokals hatte sich sein Gesicht allmählich verändert, so jedenfalls schien es mir unter dem Einfluß dessen, was ich trank und was ich hörte. Es war jünger geworden, die Falten schienen sich zu glätten, ein Teil seiner Person kehrte in die Zeit zurück, über die er sprach. Wie viele Jahre trennten uns jetzt? Als er kurz seine Hand auf meine legte, zog ich sie erst nach einer Weile vorsichtig zurück, als könnte ich ihn verletzen. Es war dieselbe Hand, die meinen Vater berührt hatte. Wie stark hatte ihn sein Tod berührt? Statt ihn zu fragen, blieb ich stumm.
    »Er muß sich von seinem Professor eine Heilung ohne Rückfallrisiko erwartet haben. Er war in einem Maß unglücklich, wie ich es niemals war, wie andere es waren, über die wir früher stundenlang geredet hatten und zu denen wir uns nicht zählten. Ich finde selbst im Sumpf den Ast, an dem ich mich herausziehen kann. Emil war blind für meine vielleicht etwas simple Art, das Glück zu finden. Es bedarf eines einfachen Charakters. Den habe ich. Fürihn roch es nach Unheil, Versagen und Krankheit. Er sah nur den Sumpf, nicht die Hilfe. Also wünschte er sich die Heilung, an die auch seine Eltern glauben wollten, als sie ihn mit achtzehn in die Klinik schickten. Dabei weiß ich, daß Hedinger eine Heilung nicht für unerläßlich hielt. Unerläßlich wofür? Leben kann man auch so. Ganz gut leben sogar, wenn auch nicht immer anständig und nicht immer unter den Leuten, unter denen man zu leben wünscht. Ich war für deinen Vater kein Vorbild. Ich glaubte nicht an Vorbilder. Er konnte nicht glauben, daß meine Art zu leben weniger beschwerlich war als seine. Ich kann nur sagen, daß es geht, überzeugen kann ich niemanden. Man kann sich über vieles hinwegsetzen, vor allem über die Blicke der anderen. Man muß es nur verstehen, sich nicht aus der Bahn werfen zu lassen. Mir ist es gelungen. Ich glaube, es ist mir gelungen. Deinem Vater nicht.«
    Nach einer Pause und einem weiteren Schluck Wein fuhr er fort: »Als Emil deine Mutter heiratete, schienen alle Probleme aus der Welt geschafft. Alle waren erleichtert. Ich war erstaunt, nicht erleichtert. Emil wirkte zufrieden, aber hinter seiner Zufriedenheit lauerte die Angst, nichts falsch machen zu dürfen und doch alles falsch gemacht zu haben. Die neue Situation war die, die sich seine Umgebung schon immer gewünscht hatte. Sie erforderte einen neuen Emil. Endlich schien alles in Ordnung zu sein. Vielleicht dachten deine Großeltern, der Erfolg sei Hedingers und ihren Bemühungen zu verdanken. Und nicht zuletzt Emils Willenskraft, die er von ihnen geerbt hatte. Vielleicht glaubte er es selbst. Wir haben darüber nicht gesprochen. Wir haben Gespräche darüber vermieden. Alles war einfach geworden, wie bei den anderen, Verlobung, Heirat, Heim, am Ende Kinder. Ich habe weder an den Erfolg noch an die anhaltende Wirkung geglaubt,ich glaube nicht an so etwas, habe nie daran geglaubt.«
    Vielleicht hätte ich André nun fragen sollen, wie nahe sie einander standen und ob es nicht besser wäre, in klaren Worten auszusprechen, was

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